Nach dem Aufstand der Wutbürger haben die Baden-Württemberger das Wort. Doch die Volksabstimmung wird Stuttgart 21 nicht befrieden.
Stuttgart/Hamburg. 17 Jahre nach den ersten Präsentationen für einen neuen Bahnhof und nach endlosen Debatten, Klagen und Straßenkämpfen geht das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 auf die Zielgerade. Am Sonntag ist die Volksabstimmung in Baden-Württemberg über den Tiefbahnhof, die es genau genommen eigentlich gar nicht geben dürfte. Doch die Revolution der „Wutbürger“, die Landtagswahl mit dem historischen Sieg der Grünen und ihrem ersten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann haben das Bahnhofs-Projekt in ein neues Licht gerückt. Doch selbst die Volksabstimmung wird den heißen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern von Stuttgart 21 nicht beenden. Der Grünen-Verkehrsexperte Boris Palmer hat die Diskussion über mögliche Konsequenzen aus dem Referendum neu entfacht. Der Tübinger Oberbürgermeister zweifelte im SWR-Fernsehen indirekt die Ansage von Ministerpräsident Kretschmann an, die grün-rote Landesregierung werde den Weiterbau des Tiefbahnhofs durchsetzen, wenn die Projektgegner das notwendige Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten nicht erreichen.
Die Regierung müsse reagieren, wenn eine große Mehrheit für einen Ausstieg sei – auch wenn das Mindestziel für eine Wahlbeteiligung (Quorum) knapp verfehlt werde, sagte Palmer in der Sendung „Zur Sache Baden-Württemberg extra“. Wörtlich erklärte er: „Glauben Sie, dass die Politik darüber hinweggehen kann? Ich glaube das nicht.“ Kretschmann hatte im Landtag Jubel von der Opposition geerntet, weil er sich zum Weiterbau bekannt hatte, sollten die S21-Gegner am Sonntag verlieren. Von den gut sieben Millionen Wahlberechtigten müssen mindestens 2,5 Millionen gegen den Bahnhof stimmen, um das Projekt zu stoppen – und gleichzeitig darf es nicht mehr Befürworter geben.
Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sieht die Bahn am Zug, sollte die klare Mehrheit gegen das Projekt sein, aber die Hürde von mindestens einem Drittel der Wahlberechtigten gerissen sein. Es sei dann die Frage, ob die Bahn „gut beraten ist, das Projekt durchzudrücken“. Bahn-Vorstand Volker Kefer sagte bei dem Schlagabtausch im SWR, der Konzern werde nach dem Volksentscheid zunächst die Meinungsbildung der grün-roten Regierung abwarten.
Der Finanzminister und Vize-Regierungschef Nils Schmid (SPD) warnte vor den Folgen eines Ausstiegs aus dem Bahnprojekt. „Wer gegen Stuttgart 21 stimmt, stimmt auch gegen die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm“, sagte er. Zudem wäre eine Kündigung der Verträge seitens des Landes ein „unkalkulierbares Risiko“. CDU-Fraktionschef Peter Hauk warf den Grünen vor, das Projekt zu verzögern. „Wenn Sie nicht ständig Prügel zwischen die Speichen stecken würden, wären wir deutlich weiter.“ Denn jeder Monat Verzug koste acht bis zehn Millionen Euro.
Über die Kosten von gut vier Milliarden Euro ist ein heftiger Streit entbrannt. Die Gegner beziffern die Ausgaben noch deutlich höher und fürchten Kostensteigerungen. Die Bahn glaubt, sogar einen Finanzierungspuffer zu haben. Für das Projekt muss der alte Kopfbahnhof weichen, ein Tiefbahnhof mit weiteren neuen Bahnhöfen entsteht, die Strecke zum Flughafen wird durch neue Tunnel führen, und die ICE-Neubaustrecke nach Ulm wird modernisiert und angeschlossen. Experten rechnen nicht mehr damit, dass Stuttgart 21 wie geplant bis 2019 fertiggestellt ist.
Für künftige Volksentscheidungen will Ministerpräsident Kretschmann die Hürden senken. Das notwendige Quorum von einem Drittel der Wählerstimmen sei ein „schweres Manko“. Kretschmann sagte: „Es muss in Zukunft zumindest drastisch gesenkt werden.“ Der Stuttgarter Regierungschef forderte die Bahn auf, noch vor der Volksabstimmung Klarheit über die Übernahme von Mehrkosten zu schaffen. Das Land werde sich nicht daran beteiligen, „wenn die 4,5 Milliarden Euro überschritten werden“. (abendblatt.de/dpa/dapd)