Während der grüne Landesvater Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg kaum Angriffsfläche bietet, setzen die SPD und Nils Schmid Akzente.
Stuttgart. Anfangs glaubten die Grünen, die SPD wäre einfach nur beleidigt. Die Grünen hielten es für eine Trotzreaktion der baden-württembergischen Sozialdemokraten, dass diese in den Koalitionsverhandlungen im April sehr keck auftraten. Dass da die SPD immer neue Ministerien für sich forderte, eisern auf ihrem Ja zu Stuttgart 21 beharrte und die Grünen mit teuren Ausgabenplänen ärgerte - das wäre, so meinten damals grüne Verhandlungsteilnehmer, bloßes Backenaufblasen. Die SPD kompensiere da-mit, dass sie bei der Landtagswahl am 27. März knapp hinter den Grünen lag und nur Juniorpartner in der grün-roten Koalition werden konnte.
Doch 100 Tage nach der Vereidigung Winfried Kretschmanns als erster grüner Ministerpräsident am 12. Mai wird erkennbar, dass die SPD ihren Trotz in Aktivität zu verwandeln wusste. Sie nämlich war es, die die ersten politischen Akzente setzte. Ihr Innenminister Reinhold Gall kündigte für das Jahresende Eckpunkte einer umfassenden Polizeireform an. Finanzminister und SPD-Landeschef Nils Schmid schob die von den Grünen vor der Wahl angekündigte Haushaltskonsolidierung auf 2020 hinaus. SPD-Schulministerin Gabriele Warminski-Leitheußer geht die Einführung von Gemeinschaftsschulen bis zur zehnten Klasse an, ohne dabei die bei den Grünen diskutierten Konsensgespräche.
Gleich drei Pflöcke für die SPD schlug deren Integrationsministerin Bilkay Öney ein: Am Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an staatlichen Schulen hält sie fest. Der "Gesinnungstest" für Einbürgerungswillige wird abgeschafft. Via Bundesrat will Öney die doppelte Staatsbürgerschaft für Migranten nach dem 23.Lebensjahr ermöglichen.
Den Grünen bleiben nur die Abschaffung der Studiengebühren und Kretschmanns Erfolge beim Nachverhandeln des Atomausstiegs im Bundesrat. Hingegen hat der grüne Umweltminister Franz Untersteller beim Großprojekt des Energie-Umbaus mit der Ertragsschwäche des Stromversorgers EnBW zu kämpfen. Und das andere grüne Großprojekt, die neue Bürgerbeteiligung, ist eine bloße Ankündigung, der SPD-Mann Schmid unlängst entschieden "die Autorität der demokratischen Mehrheitsentscheidung durch das Parlament" entgegenhielt.
Zudem werden den Grünen die Grenzen der Bürgerbeteiligung deutlich. So stieß ihr Verkehrsminister Winfried Hermann im Rheintal auf scharfen lokalen Protest, als er für den viergleisigen Ausbau der dortigen Eisenbahnstrecke als Güter-Transitroute gen Süden warb. Und Kretschmann musste in der "Zeit" zugeben, dass Landschaftsverschandelung durch Windräder "leider nicht zu ändern" sei, trotz Bürgerbeteiligung.
Besonders fatal ist diese für die Grünen bei Stuttgart 21. Sie, die den Tiefbahnhof ablehnen und deshalb die Beteiligung der Gegner wollen, haben sich damit an Leute gebunden, die wie lokalfanatische Kämpfer für Parkbäume und Mineralquellen wirken. Hingegen kann die SPD für ihr Ja zu Stuttgart 21 die höhere Verkehrsvernunft okkupieren. Dabei könnten die Grünen, wenn sie bei S 21 nicht über Bürgerbeteiligung, sondern über Verkehrskonzepte stritten, sehr rational argumentieren, dass die mindestens gut vier Milliarden Euro an anderen Stellen des renovierungsbedürftigen deutschen Bahnnetzes besser angelegt wären - während es doch arg lokalpolitisch sei, in Stuttgart so viel Geld zu vergraben, nur damit das Stadtbild nicht von den oberirdischen Gleisen des bisherigen Kopfbahnhofs zerschnitten wird. Doch fixiert auf die Monstranz der Bürgerbeteiligung, latschen sie nun in einer Wutbürger-Prozession mit.
Beschädigt wird dadurch Verkehrsminister Hermann. Konnte er sich früher im Bundestag als Vorsitzender des Verkehrsausschusses Renommee erwerben, so ist er nun der Betreuer von Stuttgarter Dauerdemonstranten, während Bahn, Bund und auch die SPD ihm jedes Werkzeug gegen S 21 aus der Hand schlagen. Der SPD gelang ein echter Coup, als sie, der Juniorpartner, im Koalitionsausschuss durchsetzte, Heiner Geißlers Kompromissplan für einen ober- und unterirdischen Kombi-Bahnhof nur dann weiterzuverfolgen, wenn Bahn und Bund sich darauf einlassen. Als wären die dazu bereit. Hingegen waren die Grünen von Geißlers Idee angetan. Doch die SPD, die den Kombi-Bahnhof ablehnt, obsiegte. Darum konnte sich Nils Schmid, als er am Mittwoch zusammen mit Kretschmann die 100-Tage-Bilanz der Koalition zog, generös zeigen und von der Bahn fordern, bis zu der für Ende November geplanten Volksabstimmung keine baulichen Fakten zu schaffen. Ironisch klang Schmids Zusatz, dass bei S 21 das Erfolgsgeheimnis der Regierung sei, unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren.
Implizit schob Schmid damit dem Regierungschef Kretschmann eine Rolle zu, die dieser ohnehin seit 100 Tagen spielt: die des Moderators bei Meinungsverschiedenheiten, des gütig ausgleichenden Vermittlers. Es wirkte programmatisch, als Kretschmann unlängst im "Stern" sagte, ein baden-württembergischer Ministerpräsident sei "Regierungschef und Bundespräsident in einem". Die zweite von ihm genannte Rolle spielt er sehr intensiv: Er hat polarisierende Zuspitzungen etwa zum Ziel einer geringeren Autodichte deutlich abgeschwächt, spricht stattdessen so ausführlich wie selbstkritisch über seine einstige Verirrung ins linksradikale Sektentum und verbreitet sich über Stilfragen. Zumal dann, wenn er immer wieder betont, sich nicht im pompösen Amtssitz der Villa Reitzenstein verbarrikadieren zu wollen. In Hemdsärmeln, im Freien, saß er am Mittwoch bei seiner Bilanz und sprach: "Ich nehme im Land eine wirklich gute Stimmung wahr. Die Leute nehmen die Politik des Gehörtwerdens sehr ernst."
Solche Töne kommen bislang gut. Erfolgreich vermeidet es Kretschmann, jenen provozierenden Umgestalter zu geben, auf dessen Bekämpfung sich die Opposition gefreut hatte. Die CDU hat kaum eine Möglichkeit, gegen Kretschmann jene Wut zu richten, die in ihr seit dem Wahldesaster gärt. Und auch bei der FDP-Landesvorsitzenden Birgit Homburger klang durchaus Bedauern an, als sie gestern nach 100 Tagen Grün-Rot sagte: Wer sich im Ungefähren befindet, kann kaum angegriffen werden.