Der Erfolg der Piratenpartei sorgt für Stress in der künftigen Berliner Fraktion. Es gibt Gedrängel um den Fraktionsvorsitz – und das vor laufenden Kameras.
Berlin. Irgendwann hält Christopher Lauer es nicht mehr aus. Er geht eine Zigarette rauchen. Der Rest der neuen Piraten-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert ohne einen ihrer bekanntesten Vertreter weiter. Schon einige Minuten vorher hatte Lauer den Kalauer der Ungeduldigen gemurmelt: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem.“ Die erste offizielle Sitzung der künftigen Piraten-Abgeordneten in Berlin offenbart alle politischen und gruppendynamischen Probleme von Polit-Neulingen. Und weil die Piraten um jeden Preis transparent sein wollen, zelebrieren sie erste Machtkämpfe, gruppendynamische Streitereien, Ahnungslosigkeit oder Technikbegeisterung öffentlich.
Der überraschende Erfolg der Piratenpartei mit 8,9 Prozent bei der Wahl in Berlin liegt gerade einmal eine Woche zurück. Nur langsam realisieren einige Jung-Politiker, dass sie nun Parlamentarier sind, Interviews geben sollen und mit Haushaltsproblemen nicht mehr das dreckige Geschirr in der WG gemeint ist. Nach jüngsten Umfragen wäre zurzeit sogar der Sprung in den Bundestag im Bereich des Möglichen. Lauer (27) und Spitzenkandidat Andreas Baum (33), beide Politik- und Talkshow-erfahren, wollen schnell Strukturen schaffen. Am besten mit ihnen an der Spitze. Vor der ersten Sitzung am Donnerstag kündigten sie an, sie könnten sich vorstellen, „zusammen den Fraktionsvorsitz zu übernehmen“. Das geht einigen Mitpiraten deutlich zu schnell.
Die 19-jährige Susanne Graf, Studentin der Wirtschaftsmathematik und einzige Frau neben 14 männlichen Technikfans, sitzt Lauer gegenüber. Um sie herum stehen Apple-Laptops, der Boden ist voller Kabel und blinkender Internet-Verbindungsdosen. „Wir haben noch nicht mal eine richtige Fraktion, da brauchen wir auch keinen Fraktionsvorsitzenden“, stößt sie hervor. Lauer schüttelt den Kopf: „Ich sehe, das ist eine sehr emotionale Geschichte.“ Gerwald Claus-Brunner, bekanntgeworden als Dauerträger von Piratenkopftuch und blauer Latzhose, nutzt die Gelegenheit – in professioneller Politikersprache: „Ich würde mich auch für das Amt zur Verfügung stellen.“ Nun wird Susanne Graf lauter: „Wir sind anders als die anderen Parteien, wir können das so machen, wie wir wollen. Dann wählen wir eben 15 Fraktionsvorsitzende.“
So weit kommt es nicht. Ein Abgeordneter stellt fest, es gibt noch gar keine Fraktionssatzung. Zudem sind sie erst von der konstituierenden Sitzung des Landesparlaments am 27. Oktober an echte Abgeordnete. Aber das erste Aufflackern von Machtansprüchen ist vom Tisch. Erst die Satzung, dann die Posten, beschließt die Runde und setzt einen Termin für eine Klausurtagung fest. Auch der Konflikt um die unbedingte Transparenz schwelt weiter. Über das Internet wurde die Sitzung live übertragen. 12 000 Zuschauer, verkündete ein Piraten-Techniker stolz. Gleichzeitig drängeln sich im kleinen Fraktionsraum Kamerateams und halten ihre Mikrofone über die Tische.
Lauer meint: „Ich habe große Bauchschmerzen damit, dass wir das hier so vor der Presse machen.“ Pirat Simon Kowalewski – lange Haare, Sonnenbrille, Mütze – sieht das locker: „Damit die nächsten fünf Jahre jeder sehen kann, was wir machen.“ Parallel zur Fraktionssitzung debattiert die Basis im Internet. „Irgendwann nervt das den geneigten Betrachter, sich seitenlang durch Protokolle zu kämpfen oder stundenlange Streams zu sehen“, schreibt einer. Das Parteimitglied Julia Schramm twittert gegen die Frauenquote: „Wieso will mich jeder zwingen in ein Parlament zu gehen, nur weil ich Titten habe? Ich raste aus.“
+++ "Wir müssen uns den Politikstil der Piraten anschauen" +++
+++ Auf dem Vormarsch +++
Die Abgeordneten feiern derweil kleinere Erfolge. Ab sofort habe die Kantine Club-Mate, ein koffeinhaltiges Szene-Getränk, im Angebot, verkündet einer. Verhaltener Jubel. Nur der 24-jährige Heiko Herberg twittert aus der Sitzung: „Ich gebe für die Klausurtagung Hertha, Geburtstage und Familientreffen auf... Ich will jetzt nen Eis :-( !!!“ Dann ist der Abend zu Ende. Das Protokoll verzeichnet: „22:24: Ende der Sitzung“. Herberg twittert: „Fraktionssitzung überstanden... Die Definition liegt auf ÜBERSTANDEN!!!“