Junge Menschen wollen die Gesellschaft verändern – ohne Parteiprogramme. Ein Gedankenspaziergang zu den neuen Orten des Politischen.
Der Kampf für eine bessere Welt beginnt auf gepolsterten Sofas. Aus den Lautsprechern säuselt James Brown. Auf dem Tisch im Café Juli in der Sternschanze stehen halbvolle Weißbiergläser, das Licht ist rötlich gedimmt. Jörn Hendrik ist gekommen, Marcus, Sebastian und Kerstin. Auch Bernd, der Einzige mit grauen Haaren. Acht vor allem junge Menschen reden nicht von den Zwängen des Kapitalismus oder der Revolte gegen das System, man hört nichts von Parteiprogrammen, Straßenwahlkampf oder Parlamenten. Es geht ihnen um Konsum. Und um Klimaschutz. Für Jörn Hendrik und die anderen ist das kein Widerspruch. Ihre Waffe für die Veränderung der Gesellschaft zu einem besseren Ort ist der Carrotmob. Und den wollen sie an diesem Abend organisieren.
Verbraucher kaufen gezielt in einem Geschäft, am besten in Massen, als Mob. Der Ladenbesitzer verpflichtet sich, einen Teil des Umsatzes in Maßnahmen zum Energiesparen zu investieren. Für ihren vierten Carrotmob am 29.September hat sich die Hamburger Gruppe die Bäckerei Effenberger und das Modegeschäft Marlowe Green Fashion im Grindelviertel ausgesucht.
Sie sind die Guten, sie sollen belohnt werden für nachhaltiges Wirtschaften mit Biobrot und fair gehandelter Baumwolle. Belohnt mit Geld – der Währung des etablierten Systems. Buykott statt Boykott, es ist eines der Leitmotive der neuen „Dafür-Gesellschaft“. Umweltschutz ohne erhobenen Zeigefinger. Stattdessen halten sie den Unternehmen die Karotte, Carrot, hin.
Ein Berater wird für Effenberger ein Konzept für das Sparen von Energie erarbeiten. Moderne Leuchten in den Auslagen, besser isolierte Schaufenster, darin wird der Besitzer den Umsatz vom Tag des Carrotmobs investieren. Der Modeladen Marlowe will das Geld für Einkaufstaschen aus fair angebauter Baumwolle ausgeben.
Zum Klimaschutz haben sich beide Geschäftsführer verpflichtet. „Kein Mob ohne Vertrag“, sagt Jörn Hendrik. Man spricht im Café Juli die Sprache des Systems.
Wenn die vergangenen zwölf Monate einmal für etwas in der deutschen Geschichte stehen werden, dann ist es auch die laute Stimme der Bürger. Ihre Macht opponiert gegen die Kaste der etablierten Parteipolitiker. Der Stuttgarter „Wutbürger“ fand Einzug in die Medien – mit dem Rückenwind der Proteste der Hamburger Schulreformgegner, den Entlarvungen des Verteidigungsministers auf der Internetplattform Guttenplag, aber auch beflügelt von der Wucht der Revolutionen in Tunesien und Ägypten. Wer die Muster dieser Bewegungen untersucht, findet vor allem eine Konstante: den Widerstand gegen die alte Elite der Politik. Die Bürger tragen die Gestaltung der Welt aus den Parlamenten heraus. Es entstehen neue Orte des Politischen.
Die neue außerparlamentarische Opposition der Bürger ist lokal, nicht global; sie agiert zweckgebunden, nicht ideologisch; sie organisiert sich vor allem im Internet – und nicht in Parteien.
+++ Piraten erstmals im Parlament - fast fünfmal so stark wie die FDP +++
Fachausschuss, Gesetzentwurf und Fraktionszwang – das sind die Instrumente der Berliner Republik. Wenn sich junge Bürger politisch engagieren, verabreden sie sich über Twitter und Facebook zu spontanen Fahrrad-Demos und legen den Verkehr lahm, die Critical Mass Rides. Sie spielen Green Guerilla und pflanzen heimlich Gemüse in der Innenstadt, beschlagnahmen Plätze in ihrem Stadtteil für spontane Fußballspiele oder machen Politik mit vollen Einkaufswagen wie beim Carrotmob. „Weak ties“, lose Bünde, nennt der amerikanische Schriftsteller Malcolm Gladwell die offenen, wenig belastbaren Beziehungen, die unbekannte Menschen für ein konkretes politisches Ziel eingehen. Für ihre politischen Aktionen bilden sie temporäre autonome Zonen, wie sie der amerikanische Philosoph Hakim Bey nennt.
Carrotmob, Critical Mass Ride, Green Guerilla – die Sprache der neuen politischen Generation klingt nach amerikanischen Rockbands. Und diese Generation geht bei ihren Aktionen eine spannende Symbiose ein – von virtuellen Räumen im Internet und realen Räumen der alten Politik. So organisierte die Jugend bei ihrem Aufstand in den arabischen Ländern den Protest im Internet, lud Videos auf YouTube hoch und kritisierte das Regime in Blogs. Doch dann zog sie mit ihren Parolen an die Orte der alten Politik, vor Regierungsgebäude, auf die großen Plätze der Hauptstädte. In Deutschland wurde der reale Minister zu Guttenberg vor allem mit den Recherchen der Netzgemeinschaft gestürzt – auf der virtuellen Plattform Guttenplag. Fälle dieser Art häufen sich, nicht nur bei der Suche nach den Plagiatoren.
Dass Netzaktivisten und Konsum-Guerilleros aus der Welt der Blogs langsam in den Mainstream finden, ist kein Zufall. Es ist vor allem Ausdruck einer Sprachstörung zwischen Politiker und Bürger. Die Menschen nehmen die Parteien als Verhinderer wahr, schreibt Christoph Giesa in seinem Buch „Bürger. Macht. Politik“. Als Verhinderer von Veränderung, Gesprächen und Transparenz. Als Verhinderer von Zukunft. Der Wissenschaftler Friedrich von Borries geht noch weiter. „Das Parteiensystem ist ein hohles System geworden“, sagt er. Von Borries leitet das Forschungsprojekt „Urbane Interventionen“ an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Er sieht die Gefahr, dass sich Politiker nicht wandeln und diese Entwicklung zu spät erkennen. „Das könnte die demokratischen Entscheidungsprozesse aushebeln.“
Wer nach Belegen für den Akzeptanzverlust der Parlamente sucht, muss nur auf die Beteiligung an den Wahlen blicken. Während 1998 noch gut 82 Prozent der Deutschen über die Mitglieder des Bundestags abstimmten, waren es 2009 noch 70 Prozent. Vor allem die traditionsreichen Parteien verlieren Mitglieder. Engagement in Parteien ist so attraktiv wie Staus auf der Autobahn.
Vor allem eine Partei fährt seit Sonntag auf der Überholspur: die Piraten. Sie sind der Profiteur der Sprachstörung zwischen Wähler und Volksvertreter. Bei der Wahl in Berlin holten sie fast neun Prozent – fünfmal so viel wie die FDP. Vielleicht wird ihre Zeit im Abgeordnetenhaus nur eine Episode mit naiven politischen Zwischenrufen. Vielleicht wird die Partei aber auch so etwas wie die ständige Vertretung der „Digital Natives“ im Parlament. Sie sprechen die Sprache der Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist.
Die Piraten sind so herrlich unprofessionell. So wunderbar halborganisiert, in einem politischen Betrieb, der Fehler mit Häme der Gegner oder negativen Schlagzeilen bestraft. Und sie passen so gut zur Spaßmetropole Berlin.
Carrotmob ist Engagement und Party zugleich, sagt der Amerikaner Brent Schulkin, der Gründer der Carrotmobs. Im Mai war er zu Besuch im Betahaus am Neuen Pferdemarkt in Hamburg, einem Büroraum, in dem Ingenieure, Programmierer und Medienmacher einen Schreibtisch mieten können. Manchmal für einen Monat, manchmal nur für einen Tag. Das Betahaus ist der Coffee to go der kreativen Arbeitswelt. Es gibt Internet und eine Bar. Der Raum ist so unaufgeregt wie das Design der Apple-Computer auf den Tischen. Am Abend gibt es Veranstaltungen, beispielsweise über das Informationsfreiheitsgesetz. Redet Schulkin über die Idee des Carrotmobs, drückt er sich ein wenig um das Wort „politisch“. Es klingt ihm zu sehr nach Wahlkampf. Zu sehr nach Staus auf Autobahnen. Die klassischen Formen des Protests seien zwar wichtig, aber wenn man die Gesellschaft gemeinsam mit Unternehmen verändern wolle, dann müsse man Abstand nehmen vom Bild des bösen und gierigen Managers. „Die Unternehmer sind keine schlechten Menschen, aber das System erlaubt ihnen nur eine Richtung: hin zum Geld“, sagt Schulkin.
Und hin zum „Happening“. Jörn Hendrik und die anderen diskutieren im Café Juli an diesem Abend vor allem über das Rahmenprogramm. Sollen Musikgruppen eingeladen werden zum Carrotmob? Basteln sie Masken für Kinder? Wer lädt die Presse ein? 5000 Flyer will die Gruppe in Hamburg verteilen, in den Läden sollen Plakate hängen, über Blogs und Facebook werben sie für möglichst viele Konsumenten, die ins Grindelviertel kommen. Die Flyer sollen ökologisch nachhaltig gedruckt sein. Das ist ihnen wichtig.
Werden Bürger politisch, darf es lustig werden. Wie auf der Webseite doonited.org. Das soziale Netzwerk schlägt seinen Mitgliedern jeden Tag eine gute Tat vor: Schenke einem Obdachlosen einen Apfel, erzähle deinen Großeltern etwas aus deinem Leben, schätze das saubere Trinkwasser! Unternehmen geben für die guten Taten Geld, das dann in soziale Projekte investiert wird. Mit ihrem Logo zeigen die Firmen, dass sie Teil der Bewegung sind.
Spaß macht Aktivismus leichter, sagt Brent Schulkin. Doch für die Parteien in den Parlamenten wird es ernst, nicht erst seit der Wahl in Berlin. Ihre Politiker suchen nach dem Weg zurück zum Bürger. Und wollen ihm zugleich den Weg zurück in die Partei ebnen. „Bürgerbeteiligung“ heißt das Schlagwort in den Parteiprogrammen. Oder „innerparteiliche Demokratie“. Mit Grundsatzpapieren touren Politiker zu Regionalkonferenzen und Grundsatzwerkstätten durch die Republik. Bildungsministerin Annette Schavan von der CDU stellte kürzlich in Hamburg ihre Ideen für eine gute Schule vor, Christian Lindner von der FDP am Wochenende seinen liberalen Kompass. Und die SPD diskutierte darüber, ob auch Nicht-Mitglieder über die Vergabe von Spitzenämtern abstimmen dürfen. Friedrich von Borries spinnt das Modell noch weiter. Auch eine Entscheidung per Los würde eine Parteiführung neu durchmischen. „Über Politik entscheiden dann nicht mehr nur Hierarchien und tradierte Verfahren.“
„Verfahren“ ist noch so ein Wort, das Brent Schulkin wohl nie in einem Satz mit dem Carrotmob nennen würde. Für ihn ist der Carrotmob „neu, cool, sexy für die Medien“. Ein Experiment, sagt er. Vielleicht auch nur eine Mode.