Die Berliner Fraktion scheitert bei ihrem Premierentreffen am eigenen Anspruch, ehrlich und transparent zu sein. Ein Reizthema?
Berlin. Die Tücken der politischen Realität und die Probleme mit idealistischen Zielen haben die neu gewählten Piraten schneller eingeholt als gedacht, ganz zu schweigen von einem kleinen technischen Desaster bei ihrer ersten öffentlichen Sitzung. Das Computersystem im Berliner Abgeordnetenhaus ist an diesem Abend völlig überlastet. Schuld ist die neue Fraktion der Piratenpartei, die ihr erstes Zusammentreffen live im Internet übertragen will. Die Abgeordneten haben den Schlips zu Hause gelassen. Nicht gerade überraschend tragen sie lieber Pulli und Mütze. Gerald Claus-Brunner, der bei der ersten Pressekonferenz durch seinen blauen Overall aufgefallen war, hat diesen gegen einen orangen-farbenen eingetauscht und ein Palästinensertuch um den Kopf gewickelt. Was alle gemein haben: einen Laptop vor der Nase. Der Raum ist voller Kabel und Mehrfachstecker, Kameramänner steigen übereinander; es herrscht Chaos. "Habt ihr euch alle eingeloggt?", fragt einer, dann geht's los. Seit Sonntag haben die Piraten nach ihrem Wahlerfolg (8,9 Prozent) vor allem sich gefeiert. Doch bei dieser ersten Fraktionssitzung gibt es Streit - ausgerechnet über das Kernthema Transparenz.
Der Abgeordnete Christopher Lauer macht Druck: "Wir müssen einen anderen Gang einlegen." Er will möglichst schnell einen Vorsitzenden wählen. Am liebsten wohl sich selbst. Lauer und der als Spitzenkandidat angetretene Andreas Baum sind die Alpha-Tiere, wie es sie in dieser Partei nicht geben sollte. Denn die Piraten stellen Basisdemokratie über alles. Sie hatten sogar überlegt, keinen Fraktionschef zu benennen. Mitte der Woche aber war Lauer Gast bei Anne Will, und Baum ist als Spitzenkandidat sowieso gefragt. Beide hatten sich als Doppelspitze vorgeschlagen. Und verlangten eine schnelle Entscheidung.
***"Wir müssen uns den Politikstil der Piraten anschauen"***
***Auf dem Vormarsch***
Susanne Graf, die einzige Frau der Fraktion, ist schwer enttäuscht: "Das ist intransparentes Verhalten! Wir machen hier die gleiche Hinterkammer-Politik wie andere Parteien." Der 19-Jährigen wird zugestimmt. Sie setzt sich für langwierige, dafür aber demokratische Absprachen ein. Und sie fährt fort: "Wir haben noch nicht einmal eine Fraktion, da brauchen wir auch keinen Fraktionsvorsitzenden." Echte Abgeordnete sind die gewählten Piratenpolitiker erst ab der konstituierenden Sitzung des Landesparlaments am 27. Oktober.
Einige werfen Lauer Polemik vor. "Wir machen doch hier Boulevard, die Presse freut's", kontert Lauer, der auch Spitzenkandidat werden wollte, doch dieser Posten wurde letztendlich ausgelost. In seinem Auftreten wirkt der 27-Jährige überheblich, was seinen Kollegen offensichtlich ganz gehörig gegen den Strich geht.
Schlussendlich wird an diesem Tag niemand gewählt. Auch die Fraktionssatzung steht noch nicht. Immerhin kann sich die Fraktion auf einen Termin für eine Klausurtagung einigen. Mit "Daumen hoch"- und "Daumen runter"-Kärtchen wird darüber abgestimmt. Sie erinnern verdächtig an den "Gefällt mir"-Button von Facebook. Zwischen dem 30. September und dem 3. Oktober suchen die 15 Parlamentarier eine gemeinsame Linie. Vielleicht.
Dieser Streit war nicht der erste. Am Dienstag debattierten die Piraten schon einmal über Transparenz. Das Ziel ist, den Bürgern Politik zugänglich zu machen. Keine Geheimnisse, der gläserne Politiker statt des gläsernen Bürgers. Doch das Kernthema scheint langsam zum Reizthema zu werden und die eigentliche politische Arbeit zu verzögern.
Am Dienstag war es wieder Lauer, der sich querstellte: "Ich habe Bauchschmerzen damit, dass wir das, was wir hier tun, vor der Presse tun." Vor allem bei Personalentscheidungen würde er die Kameras gern ausschalten. Der Pirat Martin Delius warnt aber davor, seine Partei als zerstritten zu bezeichnen. "Wir sind es gewohnt, Diskurse offen zu führen. Die Seitenhiebe, die wir austeilen, sind human, so kann sich jeder Luft verschaffen." Trotz der Anlaufschwierigkeiten bleibt den Piraten der Erfolg erhalten. Es gibt so viele neue Mitglieder, dass die Partei über deren genaue Zahl den Überblick verloren hat. Für die Stelle des Pressesprechers gibt es schon über 100 Bewerbungen, obwohl der Job noch gar nicht ausgeschrieben ist.