Niedersachsens Ministerpräsident hat die Kandidatenfrage zu seinen Gunsten gedreht. Dabei hielten ihn einige schon für politisch abgemeldet.
Hamburg. Vor einigen Tagen noch sagten die einen, er sei politisch nicht mehr vorhanden. Die anderen behaupteten, er sei der letzte starke Mann in der CDU, der Letzte, der der Kanzlerin und Parteivorsitzenden Angela Merkel mittelfristig noch ihr Amt streitig machen könne. Recht hatten sowohl die einen als auch die anderen. Als Roland Koch vor einer Woche seinen Rückzug als hessischer Ministerpräsident und Parteivize ankündigte, galt Wulff unvermittelt als der einzig verbliebene Mächtige in der Chefriege der Christdemokraten. Und zugleich als einer, von dem man kaum noch etwas hörte.
Wulff legte sich in dieser Lage einige Worte zurecht. Das wenige, das er sagte, war prägnant: "Man muss eben sehen, dass man gute Leute hält, und man muss sich schon Gedanken machen, wenn man gute Leute verliert." Man weiß nicht, ob Angela Merkel sich diese Gedanken danach machte, aber Wulff tat es offensichtlich. Und vielleicht war jetzt - eine Woche nach Kochs Abgang - für ihn der Zeitpunkt gekommen, die Kanzlerin daran zu erinnern, dass man gute Leute eben halten und ihnen etwas bieten muss. Das mag eine Erklärung dafür sein, warum es Wulff gelang, die Kandidatenfrage zu seinen Gunsten zu drehen. Man hatte zuletzt nicht mehr wirklich gewusst, was Wulff eigentlich will. So wirkt seine Nominierung als Bundespräsident fast schon wie der Husarenstreich eines vermeintlich Abgemeldeten.
Der 50-jährige gelernte Rechtsanwalt soll sich selbst bei Angela Merkel beworben haben. Als er das tat, wusste er bereits mächtige Fürsprecher aus den CDU-Landesverbänden hinter sich. Die Ministerpräsidenten der Union waren seine Verbündeten. Sie wollten ihn durchsetzen und ließen es auf eine Machtprobe mit Merkel ankommen. Wulff war nämlich nicht Merkels Favorit, das war viel mehr Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Wulff passte trotzdem in Merkels Kandidaten-Profil: Er sollte politische Erfahrung mitbringen, nicht zu Schnellschüssen neigen, so gut es geht zur Stabilisierung der schwarz-gelben Koalition beitragen, ein konservatives Profil mitbringen.
Der Chef einer schwarz-gelben Koalition in Hannover erfüllt diesen Wunschzettel, nur ist er kein klassischer Konservativer. Zwar wäre er nach Heinrich Lübke erst der zweite Katholik als Bundespräsident seit 1949. Aber Wulffs Leben und Politik symbolisieren einen anderen, moderneren Entwurf. Er ist zum zweiten Mal verheiratet. Seine 15 Jahre jüngere Frau Bettina, eine Unternehmenssprecherin, brachte vor zwei Jahren einen gemeinsamen Sohn zur Welt. Aus erster Ehe hat Wulff noch eine Tochter, und auch seine Frau bringt einen Sohn mit in die Partnerschaft. Ins Schloss Bellevue zöge eine Patchworkfamilie ein. Und den letzten politischen Paukenschlag Wulffs in Niedersachsen konnte man sogar als eine Kampfansage an den christlich-konservativen Flügel seiner Partei deuten. Er berief die 37-jährige türkisch-stämmige Muslimin Aygül Özkan aus Hamburg zur Sozialministerin in Hannover. Die bundesweite Aufmerksamkeit war ihm sicher, sogar Ex-Kanzler Gerhard Schröder lobte ihn in aller Öffentlichkeit für diesen Personal-Coup.
Wulff gehört derselben Generation an wie Roland Koch. Auch Wulff wurde zuletzt nachgesagt, als CDU-Vize und nach nunmehr sieben Jahren als Regierungschef in Hannover von einer Art Resignation ergriffen worden zu sein. Er mischte sich spürbar immer weniger ein in Debatten. Auffallend wurde dies, nachdem Schwarz-Gelb im Herbst die Bundestagswahl gewonnen hatte. Der politische Wulff fand kaum noch statt. Während alle Regierungschefs der Länder in den vergangenen Wochen ihre Haltung zum Atomausstieg und der Frage, ob der Bundesrat zustimmen solle, kundtaten, wollte Wulff partout nichts dazu sagen. Er schwieg auch, als Merkel nach dem Fehlstart der neuen Bundesregierung aus den eigenen Reihen massiv kritisiert wurde. Normalerweise schlägt in solchen Momenten die Stunde der Parteivizes, die dann ihre Loyalität zur Chefin unter Beweis stellen können. Wulff konzentrierte sich lieber auf sein Amt in der Heimat. In Hannover galt es als ausgemacht, dass der Ministerpräsident all seine Kraft nur noch in eine dritte Amtszeit als Regierungschef ab 2013 investieren wolle.
+++ Porträt: Joachim Gauck: Versöhner und Mahner +++
+++ Porträt: David McAllister: „Kronprinz" mit schottischen Wurzeln +++
Zu Zeiten der Großen Koalition hatte Wulff die Parteichefin dagegen noch brav unterstützt. Er sagte damals noch Sätze wie "Angela Merkel ist eine sichere Bank" oder: "Es müssen sich viele bereit erklären, ihr zur Seite zu treten und mitzuhelfen". Nur Wulff selbst wurde danach ein zunehmend unsichtbarer stellvertretender Parteivorsitzender. Als Kronprinz Merkels für eine zukünftige Kanzlerschaft hatte man ihn zuletzt nicht mehr gesehen. Dafür hatte Wulff schon selbst gesorgt. Bis heute wird gerätselt, ob es reine Taktik oder ein ehrlicher Moment war, als er sich aus dem Rennen um die Nachfolge Merkels verabschiedete, noch bevor das Rennen überhaupt begonnen hatte. Zwei Jahre liegen die Aussagen inzwischen zurück, die er im "Stern" platziert hatte: "Mir fehlt der unbedingte Wille zur Macht und die Bereitschaft, dem alles unterzuordnen." Er bekannte, er wolle weder Bundeskanzler noch Minister in Berlin werden. "Ein guter Landespolitiker ist noch lange kein guter Kanzler." Und: "Auf mich wartet in Berlin niemand." Als "Alphatiere" sehe er andere als sich.
Im gleichen Interview sagte Wulff aber auch andere Dinge, die sich heute wie eine Provokation lesen. Er kritisierte Merkel auf seine Art: Die Trennung von Regierungsamt und Parteivorsitz gelinge nur, wenn man einen Tandempartner habe, zu dem "ein totales Vertrauensverhältnis" bestehe. Merkel hätte ein solches Vertrauensverhältnis allenfalls "zu ihrer Büroleiterin Beate Baumann". Worte wie ein Klageruf: Wulff wollte offenbar selbst der Tandempartner sein, derjenige, dem sie zumindest eines Tages den Parteivorsitz überlassen hätte. Nie hatte er sich als Gegenspieler Merkels zu erkennen gegeben, so wie es Roland Koch oder Jürgen Rüttgers taten. Aber Merkel dankte es ihm nicht - und rührte sich nicht.
Also übte Wulff notgedrungen die landesväterliche Attitüde weiter ein. "Ich fände es schön, wenn ich eine ganze Weile Ministerpräsident bleiben dürfte und meine Kinder mir Freude machen", sagte er und kokettierte fortan mit seiner totalen Zufriedenheit. In Hannover machte ihn das nur beliebter. Dort war er der Zuhörer, aber auch der Ratsuchende. Er nahm Gedanken der Opposition auf und verkaufte sie geschickt als die seinen.
Manche Beobachter glaubten, er habe nach seiner Wiederwahl 2008 seinen Ehrgeiz verloren. Jenen ausgeprägten Ehrgeiz, der ihn mit 19 Jahren als Bundesvorsitzender der Schüler-Union in den CDU-Bundesvorstand katapultiert hatte und der ihn mit 32 Jahren schon am Grundsatzprogramm der Partei mitschreiben ließ. Jenen Ehrgeiz, der ihn nicht verzagen ließ, bevor er erst beim dritten Anlauf Ministerpräsident von Niedersachsen wurde. Vielleicht ahnte er, dass er Kanzler nicht mehr werden würde. Er wird stattdessen mit 50 Jahren der jüngste Bundespräsident der deutschen Geschichte. Wulffs Ehrgeiz dürfte aufs Erste doch noch befriedigt sein.