Spezialeinheiten töteten statt gefährlicher Bombenbauer zehn unschuldige Jugendliche. Die Nato räumt das tödliche Debakel ein.
Hamburg/London. Als die Hunde in der Nacht anschlugen, wachte Mohammed Taleb Abdul Ajan auf. Dann hörte er Männerstimmen vor seinem Schlafraum. "Ihre Waffen töteten ohne einen Laut", sagte er später aus. Es war der 27. Dezember 2009. Zwei Kilometer außerhalb der afghanischen Ortschaft Ghazi Khan in der Provinz Kunar waren Hubschrauber gelandet. Ghazi Khan liegt unweit der pakistanischen Grenze.
Spezialeinheiten näherten sich dem Dorf und drangen in ein Gebäude ein. Ihre Mission: Die Eliminierung einer gefährlichen Gruppe von Aufständischen, die für Einsatz und Herstellung der berüchtigten Sprengfallen (IED) verantwortlich gemacht wurden, denen bereits so viele Nato-Soldaten zum Opfer gefallen sind. Nach Berichten überlebender Augenzeugen schossen die Soldaten den schlafenden Opfern mit schallgedämpften Waffen in den Kopf. Einer von ihnen wurde herausgezerrt und dann im Nachbarraum erschossen.
Alles sah zunächst nach einem militärischen Erfolg im Kampf gegen al-Qaida und Taliban aus.
Doch inzwischen ist die furchtbare Wahrheit ans Licht gekommen: Keiner der zehn in Ghazi Khan Getöteten war ein Aufständischer. Acht von ihnen waren Schüler zwischen zwölf und 18 Jahren, einer war ein zwölfjähriger Schäferjunge und einer ein 18-jähriger Nachbar, der in Panik aus seinem Haus lief. Taleb musste im Morgengrauen feststellen, dass drei seiner Söhne, zwei Brüder und drei Neffen tot im Nebenraum lagen. "Die Täter hatten keine Ahnung, wen sie da töteten", sagte Taleb.
Nach Recherchen der Londoner "Times" vor Ort musste die Nato jetzt einräumen, dass die ganze Operation ein Fehler war und auf falschen Informationen beruhte. Der Angriff hätte niemals autorisiert werden dürfen. "Nachdem, was wir jetzt wissen, war dies wohl kein zu rechtfertigender Angriff", sagte ein Nato-Beamter der "Times" in Kabul.
Die Enthüllung kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Im Zuge der gemeinsamen Offensive "Muschtarak" von afghanischen und Nato-Streitkräften in der Provinz Helmand hat es allein nach Zählung der Organisation "Afghan Independent Human Rights Commission" bereits 63 zivile Tote bei Nato-Angriffen gegeben. Der Nato-Oberbefehlshaber in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, bemüht sich, mit einer neuen Strategie die Bevölkerung möglichst zu schonen und deren Sympathie für den Nato-Einsatz zurückzugewinnen.
Nato und afghanische Armee schieben sich nun gegenseitig die Schuld an dem Massaker zu. Der Rechtsberater der Koalitionstruppen, US-Oberst Richard Gross, erklärte, amerikanische Soldaten seien zwar vor Ort gewesen, hätten aber nicht die Führung der Operation gehabt. Nato-Beamte deuteten an, es seien Afghanen gewesen, die "die Abzüge betätigt" hätten.
Das Kabuler Verteidigungsministerium dagegen beteuerte, es seien gar keine afghanischen Truppen beteiligt gewesen. Der Polizeichef des Distriktes Narang, Mohammed Afzal, beharrte laut "Times" darauf, dass es US-Spezialeinheiten gewesen seien. Ein überlebender Sohn von Taleb, der 19-jährige Sefatullah, war in der Nacht mit Handschellen gefesselt und verhört worden. Auch er sagte aus, es seien Amerikaner gewesen. Dorfbewohner fanden später Munition und chemische Leuchtstäbe, wie sie von den US-Truppen benutzt werden.