Die Bundeskanzlerin wird die CDU-Kursdebatte nicht los: EU-Kommissar Oettinger stützt Merkel, doch die Riege ihrer Gegner stellt sich neu auf.
Berlin/Stuttgart. Ein eher kühles Verhältnis wird der Bundeskanzlerin und dem deutschen EU-Kommissar in Brüssel nachgesagt. Man hat schon so einiges durchgemacht miteinander, und insbesondere Günther Oettingers Jahre als baden-württembergischer Ministerpräsident brachten Angela Merkel nicht nur Freude. Zu Zeiten der Großen Koalition stellte sich Oettinger an die Spitze der Merkel-Kritiker. Mal forderte er von der CDU-Chefin, endlich "Führung" zu zeigen, mal empfahl er Merkel, die Uniform der Kanzlerin in den Schrank zu hängen und die Uniform der Parteivorsitzenden anzuziehen. Die Kanzlerin wiederum tadelte Oettinger öffentlich, nachdem dieser den verstorbenen Ministerpräsidenten Hans Filbinger bei seiner Trauerrede als Gegner des NS-Regimes bezeichnet hatte.
Seit Oettinger auf Merkels Nominierung hin in Brüssel weilt und das immer mächtiger werdende Energieressort in der EU-Kommission leitet, hat sich der Ex-Ministerpräsident zurückgehalten. Jetzt schaltet er sich in die durch seinen Stuttgarter Amtsvorgänger Erwin Teufel losgetretene Debatte um das Parteiprofil ein - und verteidigt vehement Merkels Modernisierungskurs.
Im Gespräch mit dem Abendblatt warnte Oettinger vor einem "Rückwärtsgang" und einer Rückkehr zu den Parteiprogrammen der 80er- und 90er-Jahre. Er ging damit auf klaren Konfrontationskurs mit dem 71-jährigen Teufel, der Baden-Württemberg von 1991 bis 2005 regierte und sich nun eine Rückbesinnung auf eine christliche und wirtschaftsnähere Politik wünscht. Teufel und den anderen Merkel-Kritikern hält Oettinger entgegen: "Einige in unserer Partei sollten erkennen: Die Bonner Republik ist Geschichte."
Mit Angela Merkel an der Spitze habe die CDU auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, lobte der Energiekommissar. "Ich glaube, dass die CDU mit Angela Merkel gute Chancen hat, Regierungsverantwortung während des ganzen Jahrzehnts zu haben." Über den Führungsstil der Bundeskanzlerin, den Oettinger in der Vergangenheit noch gern mit markigen Worten kritisierte, sagte er in diesem Fall: "Die Stärken und Gewohnheiten von Angela Merkel sind unverändert. So haben wir sie gewählt - so wollen wir sie weiter haben." Er denke nicht, dass man einen Menschen Mitte 50 in seinem Arbeitsstil noch entscheidend ändern könne. "Das gilt auch für die Kanzlerin."
Der CDU-Spitze, die nach Teufels Abrechnung auf ein schnelles Ende der Kursdebatte gehofft hatte, bleibt die leidige Diskussion bis auf Weiteres erhalten. Alle Versuche, den Streit um die Ausrichtung einzudämmen, sind gescheitert. Mehrere Protagonisten der momentanen Unruhe sind altbekannte Gegner des merkelschen Führungsstils, manche allerdings bringen sich erstmals in Stellung. Neben den früheren Amtsträgern und dem seit Jahren besonders aufmüpfigen Wirtschaftsflügel der CDU formiert sich eine neue Riege im konservativen Flügel, die die Kursdebatte dankbar aufgenommen hat.
Zu Letzteren gehört Hessens CDU-Fraktionschef Christean Wagner - ein Mann aus dem Landesverband, der gemeinhin als konservative Keimzelle der Partei gilt. Wagner forderte am Wochenende via "Bild"-Zeitung "einen Grundsatzparteitag zu Programm und Profil der Union". Es sei höchste Zeit, dass man die Erwartungen an die programmatische Erkennbarkeit der CDU klar und offen an die Bundesvorsitzende und den Generalsekretär herantrage, sagte er. Es sind Worte, die den Eindruck erwecken, Merkel und Hermann Gröhe hätten keine Ahnung, wie die Stimmung an der Basis sei. Wagner empfindet Teufels Kritik inzwischen sogar als allgemeine Anschauung innerhalb der Partei. "Die Kritik von Erwin Teufel spricht mir aus der Seele und ist alles andere als eine Einzelmeinung - es ist eine riesige Grundströmung von altgedienten Mitgliedern bis zur Jungen Union", sagte er. Dass der Fraktionschef solche Ansichten ganz ohne (zustimmende) Kenntnis seines Ministerpräsidenten und des CDU-Vizevorsitzenden Volker Bouffier in die Öffentlichkeit tragen darf, kann man angesichts der brisanten Stimmungslage ausschließen.
Nur Bouffier selbst hat sich noch nicht getraut, im Stile seines Amtsvorgängers Roland Koch die konservative Galionsfigur und den prononcierten Merkel-Widersacher zu geben. Dabei ruhen die Hoffnungen der Konservativen gerade auf ihm. Dass Bouffiers Fraktionschef die Giftpfeile nach Berlin schoss, kann bereits als erstes Signal einer wachsenden Unzufriedenheit des hessischen Regierungschefs gedeutet werden. Er selbst beließ es vorerst bei der Forderung, bei dem Bildungsparteitag im November auch über die Euro-Krise zu beraten. Auch so kann man Kritik am Kurs der Parteispitze formulieren. Auf lange Sicht gilt Bouffier parteiintern als möglicher Hauptwidersacher der Kanzlerin. Sprachrohr der Unzufriedenen sind derzeit noch die christdemokratischen Ruheständler. Neben Teufel haben sich auch der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf und Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe in die Riege der Merkel-Kritiker gewagt. Während der eine über die 180-Grad-Wende in der Atompolitik schimpfte, rügte der andere die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Intervention und das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien.
Die Sorge um das Wirtschaftsprofil treibt die Partei dagegen seit Jahren um, insbesondere seit dem Abschied des früheren Unions-Fraktionschefs Friedrich Merz. Der Chef des Parlamentskreises Mittelstand, Michael Fuchs, der Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, Josef Schlarmann, und der Chef des CDU-Wirtschaftsrats, Kurt Lauk, tragen regelmäßig und stets unverblümt ihren Unmut über die Kanzlerin vor sich her. So klang es schon mehr nach einem Flehen als nach einer Feststellung, als Fuchs am Wochenende im Bayerischen Rundfunk sagte: "Die CDU ist die Partei der Wirtschaft." Und er schimpfte, man hätte viel intensiver in die Partei hineindiskutieren müssen, bevor Beschlüsse zur Abschaffung der Wehrpflicht oder zur Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem gefasst worden seien.
Wer in diesen Tagen bei all diesen Themen für Merkel in die Bresche springt, hat einiges auszuhalten. Die Treuen der Kanzlerin, vorneweg Generalsekretär Gröhe, Fraktionschef Volker Kauder und Kanzleramtschef Ronald Pofalla, haben keine andere Wahl. Sie sind Merkels Vertraute, bilden ihr Machtfundament und haben eine unmissverständliche Jobbeschreibung: der Parteichefin den Rücken frei zu halten. So warnte Gröhe: Eine Partei, "die stehen bleibt, wird zum Auslaufmodell". Und auch Kauder, der sich stets für das christliche Menschenbild in seiner Partei einsetzt und dem Teufels Mahnung in dieser Frage eigentlich recht sein könnte, verteidigte in der "Welt am Sonntag" das Erscheinungsbild der CDU. Pflichtschuldig sagte Kauder: Er könne nicht erkennen, dass die CDU sich nicht genügend um das Christliche kümmere.