Scheeßel. Dorf bei Hamburg plant Pop-up-Store für alte Schallplatten. Beim Sichten greifen Planer auf die Expertise einer erfahrenen Spürnase zurück.

  • Sich ein geliebtes Album schnappen, den Plattenspieler einschalten und dann das Gesamtwerk Track für Track anhören
  • Für viele Musikfans ist das eine Vorstellung, die Gänsehaut verursacht – besonders wenn das Album schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat
  • Doch wie erkennt man auf Flohmärkten und Musikbörsen eigentlich den wahren Wert einer Schallplatte?

Er war 46 Jahre bei der Polizei, hat ein Kommissariat geleitet und noch immer nicht die Nase voll vom Ermitteln. Allerdings sind es inzwischen nicht mehr Verbrechen, sondern Platten, die er mit kriminalistischer Sorgfalt untersucht: Detlev Kaldinski gehört zum „Investigativ-Team“ der „Sonderermittlungseinheit Vinyl“, die sich im Hurricane-Dorf Scheeßel gebildet hat.

Traum eines jeden Sammlers: Auf dem Flohmarkt ein altes Vinyl-Schätzchen heben

Ziel der musikaffinen Gruppe: Im Mai 25 wollen sie eine Schallplattenbörse auf die Beine stellen. Gecoacht werden die Vinyfans von Uwe Kolmey, ehemaliger Leiter des Bundeskriminalamtes Niedersachsen, der bereits eine Plattenbörse in Hildesheim erfolgreich gemanagt hat.

Chefermittler Detlev Kaldinski in Aktion: Hält die Platte, was das Cover verspricht? Erst nach genauer Prüfung wird der Verkaufspreis festgelegt.
Chefermittler Detlev Kaldinski in Aktion: Hält die Platte, was das Cover verspricht? Erst nach genauer Prüfung wird der Verkaufspreis festgelegt. © HA | nanette franke

Der Plan: In einer großen Ausstellungshalle, die für neun Tage als Pop up-store zur Verfügung steht, werden LPs und Singles aus Spenden meistbietend verkauft. Schon jetzt stapeln sich am Sitz der Aktionsgruppe, einer Villa, die ein Supporter für die Aktion zur Verfügung gestellt hat, die LPs und Singles in Sammelboxen, Kartons und altertümlichen Plattenständern.

Mehrere tausend Stück dürften es schon sein, schätzt Teammitglied Bernd Meyer. Über eine Hotline können Spendenwillige das Scheeßeler Plattenteam anrufen und ihre Angebote machen.

Platten-Ermittler in Scheeßel: Best-of-Sammlung der Beatles vom Plattenlabel Odeon

„Manchmal bekommen wir dabei die ganze Lebensgeschichte der Anrufer zu hören“, berichtet Meyer. Denn sehr oft sind starke Emotionen mit den Tonträgern verbunden. „Die Musik hat Freude gemacht. Wer die Platten kauft, wertschätzt damit auch den Spender“, erklärt der DJ und Musiker. Viele bringen ihre heißen Scheiben persönlich vorbei. Größere Sammlungen holt das Investigativteam selbst ab. Dies alles für den guten Zweck: Der Erlös aus dem Verkauf geht an die Jugendarbeit vor Ort.

Das „Investigativteam Vinyl“ hat erste Schätze geborgen: v.l. Bernd Braumüller, Christine Götze, Bobby Meyer, Detlev Kaldinski, Birgit Ricke und Reinhard Lüdemann.
Das „Investigativteam Vinyl“ hat erste Schätze geborgen: v.l. Bernd Braumüller, Christine Götze, Bobby Meyer, Detlev Kaldinski, Birgit Ricke und Reinhard Lüdemann. © HA | nanette franke

Manchmal ist es schon auf den ersten Blick heiße Ware, die in der Scheeßeler Villa landet. Dann wieder zeigt sich der Wert des Vinyls erst auf den zweiten Blick. Wie neulich, als Teammitglied Reinhard Lüdemann in einem Werbe-Umschlag der Firma Schneider eine Best-of-Sammlung der Beatles vom Plattenlabel Odeon entdeckte, die schon in den 60er-Jahren ein begehrtes Give away gewesen sein dürfte. Heutiger Verkaufswert der Scheibe: rund 150 Euro, so hat es das Ermittlungsteam mithilfe der Musik-Datenbank Discogs im Internet recherchiert.

Beim geübten Blick auf das Cover lassen sich Fälschungen leicht erkennen

Guter Zustand mit möglichst wenig Gebrauchsspuren und die Bekanntheit des Interpreten – Beatles, Rolling Stones, aber auch Elvis und Queen gehen immer – sind wesentliche Faktoren für den Verkaufswert, ebenso die Seriennummer der Platte.

In den Fluren einer alten Villa, dem Sitz der Aktionsgruppe, stapeln sich bereits Kisten und Kartons voller Platten.
In den Fluren einer alten Villa, dem Sitz der Aktionsgruppe, stapeln sich bereits Kisten und Kartons voller Platten. © HA | nanette franke

Taucht auf dem Cover einer Platte aus den frühen Siebzigern ein Strichcode auf, sollten Kunden misstrauisch werden, dann ist es wohl eine Zweitpressung, rät „Doc Vinyl“ Kaldinski. Auch bei der Qualität gibt es Unterschiede. Japanische Pressungen gelten als besonders wertvoll, weil sie dank hoher Vinyl-Masse satt und rund auf dem Plattenspieler liegen und nicht ruckeln. Bei Klassik-Fans sehr beliebt: Platten mit Direkt-Schnitt, bei denen die Tonspur mit einer Nadel direkt ins Vinyl gepresst wurde und die entsprechend teuer sind.

Doch was ist eigentlich so toll an den knisternden Tonträgern, die ab 1948 große Verbreitung fanden, 1963 von der Kassette, 1983 von der CD, in den 90ern von Blue-Ray, und ab 2000 vom Datenstick abgelöst wurden? Und warum ist Vinyl selbst bei der Generation Streaming wieder gefragt? „CDs hören sich zwar perfekt, aber irgendwie klinisch steril an“, beschreibt Plattenkenner Reinhard Lüdemann.

Neil Youngs Album „Harvest“ auf CD: „Es rumpelt nicht – das gehört doch zum Sound!“

Damals, als die CD erfunden wurde und dem nervigen Bandsalat der Kassette ein Ende bereitete, empfand selbst Chefermittler Kaldinski die bedienungsfreundlichen Silberlinge zunächst als Fortschritt: „Brothers in Arms von den Dire Straits, Tschaikowskys Ouvertüre 1812 auf CD zu hören, das war schon eine Offenbarung“, erinnert er sich.

„Spotify höre ich nebenbei. Beim Plattenhören setzte ich mich hin, genieße das Rauschen und Knistern.“

Bobby Meyer
Musiker und Schallplatten-Fan

Doch inzwischen ist sein neugekaufter Plattenspieler wieder „sein liebstes Kind“. Auch bei Bobby Meyer läuft die Musik inzwischen öfter auf dem Turntable. Denn: „Neil Youngs Harvest auf CD kommt nicht gut. Es rumpelt nicht. Doch das gehört zum Sound. Auf der Platte rumpelt es so, wie es soll“, sagt er.

Vinyl klingt besser, wärmer, satter, voller, ist sich das Ermittlerteam einig. „Eine Platte hat Emotionalität und Charme, genauso wie ein Pkw-Oldtimer“, findet Bernd Braumüller. Und die zweifache Mutter Christine Götze macht sogar ein „Rücklauf-Phänomen“ aus: „Deine CDs kannst du behalten, aber deine Platten nehmen wir gern“, haben ihr beide Kinder, inzwischen in den 30ern, neulich mitgeteilt.

Vinyl liegt im Trend: Millionen von Schallplatten werden jährlich neu gepresst

Zahlen bestätigen diesen Trend: Über vier Millionen LP’s werden in Deutschland jedes Jahr neu gepresst. Allein in Hamburg haben mehr als zwanzig Plattenläden wieder einen festen Kundenkreis. Und DJs, die noch die Kunst beherrschen, in die Platte zu greifen, um so Pitch und Geschwindigkeit zu steuern, den Sound mehrerer Turntables miteinander zu mischen und so ihr ganz eigenes Hörkunstwerk zu schaffen, haben Kultcharakter.

Das gesamte Album in einem Stück hören und sich richtig reinvertiefen: Das geht für viele Musikfans nur mit Vinyl.
Das gesamte Album in einem Stück hören und sich richtig reinvertiefen: Das geht für viele Musikfans nur mit Vinyl. © Getty Images/iStockphoto | eclipse_images

Einen wesentlichen Reiz der Platte macht für das Scheeßeler Ermittlungsteam auch die spezifische Rezeptionssituation aus. „Spotify höre ich nebenbei. Beim Plattenhören setzte ich mich hin, direkt neben die Lautsprecher, freue mich, wenn die Nadel aufsetzt, genieße das Rauschen und Knistern, das mich früher gestört hat. Und dann höre ich die gesamte LP in einem Stück. Denn bei der Reihenfolge hat sich der Künstler doch was gedacht“, sagt Musiker Meyer.

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Die Plattenwelle rollt. Die Scheeßeler Aktion im Mai 2025 verspricht einer der großen Plattenbörsen Norddeutschlands zu werden. Zeitgleich startet im dortigen Kunstgewerbehaus eine Ausstellung von Plattencovern.

Längst haben sich Vinylstores aus Hamburg mit Spenden für das Event angekündigt. Ein Refurbisher, der alte Plattenspieler mit Originalteilen wieder zum Laufen bringt, ist mit dem Investigationsteam im Gespräch. Und auch eine Plattenwaschmaschine soll in Scheeßel zum Einsatz kommen.

Weitere Infos unter plattenboerse@kis-scheessel.de, Tel. 0160-92865672.