Hamburg. Im Star-Club haben weltberühmte Musiker ihre ersten Schritte gemacht. Für das Publikum war es ein Aufbruch, der bis heute nachwirkt.

Als eine Touristengruppe im Oktober 2013 bei einer Beatles-Führung von Fab-Four-Expertin Stefanie Hempel den Star-Club-Gedenkstein an der Großen Freiheit besucht, hält sich ein Mann mit Sonnenbrille und Kapuzenpullover im Hintergrund.

Hempel singt „Twist And Shout“, der Mann wippt mit und lässt einen Blick über die Namen der Berühmtheiten schweifen, die vor vielen Jahrzehnten dort auf der Bühne standen: The Beatles, Jimi Hendrix, Bill Haley, Gerry & The Pacemakers, Little Richard, Fats Domino, Chubby Checker, Ray Charles und viele mehr. Der unscheinbare Mann ist selber Musiker und wird an jenem Abend noch im CCH auftreten. Sein Schritt zur Legende begann nahezu gleichzeitig mit dem der Beatles und des Star-Clubs: Bob Dylan. Was mag er wohl denken? Vielleicht wäre er dort auch gern aufgetreten?

Der legendäre Star-Club: Eröffnung vor 60 Jahren am 13. April 1962

Mit der Eröffnung des Livemusikclubs vor 60 Jahren am 13. April 1962 begann ein kometenhafter Aufstieg, der in der Silvesternacht am 31. Dezember 1969 wie eine Feuerwerksrakete verpuffte. Sieben Jahre sind aus heutiger Sicht eine kurze Zeit, aber sie reichte, um den Star-Club zur Legende zu machen. Dabei mitgeholfen haben ausgerechnet die spießigen Hamburger Behörden.

Als der Rock ’n’ Roll Mitte der 50er-Jahre seinen Siegeszug um die Welt antritt, überrumpelt er auch schnell die Hansestadt. Bereits beim „Ersten Hamburger Rock-’n’-Roll-Turnier“ im November 1956 in der Ernst-Merck-Halle kommt es zu ersten Ausschreitungen, und 1958 beim Konzert von Bill Haley an gleicher Stelle geht es erst richtig rund. Keilereien, Knüppel, Tränengas. Die Stadt regiert und schiebt „Rock-’n’-Roll-Veranstaltungen“ einen Riegel vor. Konzerte von Elvis Presley, Chuck Berry, Little Richard und anderem Gelichter möchte man hier nicht haben.

Jimi Hendrix und Mitch Mitchell 1967 im Star-Club
Jimi Hendrix und Mitch Mitchell 1967 im Star-Club © ullstein bild/Conti-Press

Starclub: Kein Rampenlicht, aber dunkle Ecken auf der Reeperbahn

Es gibt also kein Rampenlicht für die Stars, aber an den dunklen Ecken der Reeperbahn spielen sowohl musikbegabte indonesische Matrosen als auch junge, unbekannte Bands aus England die Songs ihrer Helden nach. The Jets, Rory Storm & The Hurricanes oder The Beatles schlagen sich in Kaschemmen wie dem Indra, dem Kaiserkeller oder dem Top Ten die Nächte um die Ohren, begeistert bestaunt von Rotlichtgrößen, Seefahrern, mackerhaften Halbstarken und Bordsteinschwalben.

Der Kiez hat sein eigenes Gesetz, und zwischen all den ungeschriebenen Paragrafen findet der aus Dortmund stammende gelernte Elektriker Manfred Weissleder genug Lücken, um Anfang der 60er-Jahre ein kleines Imperium aus Stripschuppen und Schmuddelkinos zu überwachen. Im Februar 1962 schnappt er sich auch das Stern-Kino an der Großen Freiheit 39, und Beatles-Kumpel, Rock-’n’-Roll-Fan, Boxer und Ex-Top-Ten-Geschäftsführer Horst Fascher flüstert ihm die Idee eines neuen Musikclubs ein: Star-Club.

Horst Fascher bucht Nachwuchsband namens "The Beatles"

Fascher, eine Mischung aus ehrlichem Geschäftsmann und harter Kante für den nötigen Überredungsdruck, weiß, dass die große Zeit der Rock-’n’-Roll-Pioniere schon wieder vorbei ist, aber die ausgehungerten Hamburger Fans extremen Nachholbedarf haben. In England zieht Fascher einen dicken Fisch nach dem anderen an Land, um ihn im Star-Club zu präsentieren: Jerry Lee Lewis, Bo Diddley, Little Richard, Fats Domino, Gene Vincent und viele weitere werden gebucht, und vielversprechende Nachwuchsbands wie die Beatles, King Size Taylor & The Domi­noes oder The Liverbirds (die wegweisende erste nur aus Frauen bestehende Beatband) füllen die Kalenderlücken.

Nicht zu vergessen die ersten deutschen Rock- und Beatgruppen, die bei Bandwettbewerben ihre Feuertaufen erfahren: The Rattles, The Rivets, Faces. Wenn eine Band besonders vielversprechend ist, lässt Weissleder Stimmzettel verschwinden, um mit den „Gewinnern“ Geschäfte zu machen.

Die Beatles John Lennon, Ringo Starr, Paul McCartney und George Harrison (v. l.) hatten 1962 drei mehrwöchige Engagements im Star-Club. Dann begann die weltweite „Beatlemania“.
Die Beatles John Lennon, Ringo Starr, Paul McCartney und George Harrison (v. l.) hatten 1962 drei mehrwöchige Engagements im Star-Club. Dann begann die weltweite „Beatlemania“. © Getty Images

Die ersten drei Jahre sind ein endloser Strom ausverkaufter Konzerte. An fast jedem Abend ist Programm mit bis zu sieben Bands, und vieles ist aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts nur noch schwer nachzuvollziehen. Heute, zumindest vor Corona, warten allein in Hamburg mehr als 100 Musikspielstätten auf ihr Publikum.

Musik ist dank Streaming überall verfügbar mit Millionen Liedern in der Hosentasche. Auf YouTube und ähnlichen Portalen ist die komplette Musik- und Konzertgeschichte in Bild und Ton abrufbar. Jede Nische ist ausgefüllt, jedes Feld erforscht, diverse Trends existieren nebeneinander, und alles ist erlaubt. Die Popmusik hingegen steht 1962 noch, nach den ersten Jahrzehnten mit den Wegbereitern Jazz, Blues, Swing und Gospel, ganz am Anfang, und wer sich dafür interessiert, hat: nichts.

Für Rock ’n’ Roll muss man heimlich die Soldatensender hören

Deutschland ist noch ein innerlich gebrochenes Land, traumatisiert durch Bombennächte, Flucht und Vertreibung, schweigend beschämt durch zwölf Jahre Nationalsozialismus, Niederlage und Holocaust. Die Deutschen wollen jetzt besonders anständig sein, aber natürlich auf den tradierten Grundlagen Zucht und Ordnung. Ablenkung von den nächtlichen Albträumen, von der Trauer um verlorene und vermisste Angehörige verschaffen endloses Schlager- und Klassikgedudel im Rundfunk und leichte Unterhaltung auf einem Fernsehkanal – wenn man einen Fernseher hat.

Für Rock ’n’ Roll muss man heimlich die Soldatensender der Besatzungstruppen auf Vaters blökendem Volksempfänger hören, und wer das Glück hat, an eine ­Single-Schallplatte von Chuck Berry oder Elvis zu gelangen, hört sie in Endlosschleife. Jedes Anzeichen von Jugendkultur, von Jeanshosen über „Hottentottenmusik“ bis zu den ersten Ausgaben der „Bravo“, wird in den Haushalten scharf beobachtet, verboten, bestraft.

Star-Club-Plakate: Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei!

Und doch begehrt die Jugend auf. „Die Not hat ein Ende! Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei!“, versprechen Star-Club-Plakate zur Eröffnung mit der „Spitzenklasse Europas“: The Beatles, Tex Roberg, Roy Young, The Graduates und The Bachelors. Und die Teenager und Twens der Stadt gehen mit ihren Freunden und Freundinnen „ins Kino“, „Kartenspielen“ oder einen „Walzer-Kursus ausprobieren“. Aus den Tiefen der Schränke, aus Erdverstecken und unter den Matratzen werden „unangemessene“ Kleider, Jeans und Lederjacken hervorgeholt und irgendwo auf dem Weg gegen biedere Anzüge und Faltenröcke getauscht. Auf dem Weg nach St. Pauli: Sündenbabel, Sammelbecken der gescheiterten Existenzen.

Strahlende Gesichter,  twistende  Hüften und Bier- und Colaflaschen am Bühnenrand: Chubby  Checker im August 1963 im Star-Club
Strahlende Gesichter, twistende Hüften und Bier- und Colaflaschen am Bühnenrand: Chubby Checker im August 1963 im Star-Club © picture-alliance / dpa | db

Und dann stehen sie im Star-Club. Nicht wenige haben noch nie in ihrem Leben den Klang von elektrischen Gitarren und E-Bässen aus 30-Watt-Verstärkern sowie Schlagzeugen aus nächster Nähe erlebt. Gespielt von unglaublich coolen, gut aussehenden jungen Männern (und später den Liverbirds). Es riecht nach Zigarettenrauch, Schweiß, Bier, Korn und Mampe Halb+Halb. Und dann geht es los mit „Rock’n’Roll Music“, „Roll Over Beethoven“ oder „The Hippy Hippy Shake“, unfassbar laut. Es dröhnt in den Ohren, massiert den Magen und fährt in alle Glieder. Eine Mischung aus erstem Kuss und erstem Faustschlag. Letzteren kassiert man auch, wenn man an der Bar um 50 Pfennig Wechselgeld streitet. 90-mal muss die Polizei 1963 anrücken. Die Sitten sind so rau wie der Sound, und die Sinne, die Emotionen völlig damit überfordert, die Eindrücke zu verarbeiten. Fallen lassen. Das Gefühl der Großen Freiheit.

Star-Club: Aufbruch in ein unbekanntes Land.

Heute, in der durchkommerzialisierten Konzert- und Musikwelt, folgt alles längst den immer gleichen Ritualen vom Soundcheck bis zum Putzlicht. Auch der wildeste Pogo-Tanz beim Punkkonzert, der krasseste Moshpit bei Heavy Metal und der drei Tage lange Rave auf wie Smarties geschmissenen Pillen ist nur die Millionste Wiederholung des ewig Gleichen, vorhersehbar und bei jeder Gelegenheit wieder erlebbar. Im Star-Club hingegen ist es der Aufbruch in ein unbekanntes Land.

Jedes Jahr erfährt die Popmusik in den 60ern neue Revolutionen, und der Star-Club kann das Tempo nicht mitgehen, auch wenn hier bis 1969 noch Legenden wie Cream, Jimi Hendrix, Yes, Colosseum und Black Sabbath (damals noch unter dem Namen Earth) spielen. Das beginnende Disco-Zeitalter besorgt den Rest. Aus dem Star-Club wird das Sex-Kabarett Salambo, bis der Komplex nach einem Brand 1983 für einen Neubau abgerissen wird.

Die, die damals hingingen, um auf oder vor der Bühne zu stehen, sind heute 70 Jahre und älter, manche sind bereits gegangen. Aber sie haben Großes erschaffen: einen Musikclub, der nicht der erste und auch nicht der letzte war. Aber er war der Star-Club.