Scheeßel. Leergeräumte Getränkeregale, auf den Bürgersteigen kiffende Hippies: Zwei Dorfjungs über eine Festival-Premiere, die Spuren hinterließ.
Mit dem beginnenden Frühling rüstet sich Scheeßel, ein 13.000-Einwohner-Ort zwischen Hamburg, Bremen und Hannover, wieder für einen Sturm, allerdings einen höchst willkommenen: Das Hurricane Festival, das diesmal vom 21. bis 23. Juni steigt, ist mit jährlich bis zu 80.000 Besuchern eines der größten in Deutschland.
Was die wenigsten wissen: Dem seit 1997 etablierten Hurricane ging ein Festival voraus, das für die damalige Zeit Maßstäbe setzte und eine ganze Generation prägte. Nur wie – und vor allem: warum – hatte in dem Heide-Kaff damals alles begonnen?
Hurricane Festival in Scheeßel: Wie in den 70er-Jahren alles begann
Scheeßel 1973: Das war für die damals 15- und 16-jährigen Schulfreunde Bobby und Luffy in erster Linie Schule, Fußballspielen und gelegentliches Abhängen bei Marga, der In-Kneipe der damaligen Zeit. Die nächste Disco war nur mit dem Auto zu erreichen, der letzte Zug aus Hamburg in die Heimat startete kurz nach halb zehn am Hauptbahnhof, was Konzertbesuche nahezu unmöglich machte.
Kein Internet, drei Fernsehprogramme, keine Streaming-Angebote – im Radio Volksmusik und Schlager. Und wenn Rock und Blues gespielt wurden, quatschte garantiert ein Moderator in die mühsam mit dem Kassettenrekorder erstellte Aufnahme hinein.
Platten waren teuer, das Taschengeld mager. Da kam das Gerücht auf, in Scheeßel sei ein zweites Woodstock geplant. Manfred Mann erleben live on stage? Wishbone Ash, die Superband Chicago? Die Teenager Bobby und Luffy – im bürgerlichen Leben Bernd Meyer und Reinhard Lüdemann – waren elektrisiert.
Eintrittskarten für 22 Mark – auch Kinder kamen ohne Probleme rein
Und tatsächlich: Schon am Vorabend des 8. September 1973 schob sich eine Karawane bunt bemalter VW-Busse und Käfer, Enten und Renaults die Landstraßen in Richtung Festival-Gelände entlang. Internationale Tramper, die an der Bundesstraße 75 den Daumen raushielten, kannten nur ein Ziel: „SKIESSEL“.
Aus dem Zug quollen immer neue bunt gekleidete Gestalten mit Luftmatratze unterm Arm. An der Kasse des mit Natodraht umzäunten Festivalgeländes, das eigentlich eine Motorrad-Rennbahn war, kontrollierten Rocker in schwarzem Leder die Eintrittskarten – 22 Mark hatten sie gekostet. Auch Kinder kamen ohne Probleme rein. Wer was mitnahm, war den Kutten-Trägern ziemlich egal. Bloß anlegen durfte man sich mit ihnen nicht.
Direkt vor der einzigen Bühne wurden Zelte aufgeschlagen. In einem davon: Luffy. So unauffällig wie möglich versuchte er, die „wirklich beeindruckenden Typen“ zu beobachten, von denen manche schon auf Fehmarn und der Isle of Wight Festivalerfahrung gesammelt hatten: Männer mit Mähne, Bart und nacktem Oberkörper über der zerfetzten Jeans, Frauen in Hot Pants und Batik-Shirts.
Leergeräumte Getränkeregale, auf den Bürgersteigen kiffende Hippies
Die Hippies eroberten Scheeßel. Dicht an dicht lagerten sie im grünen Gras, das sich, als nachts der Regen einsetzte, in Schlamm verwandelte. Eine Wolke süßlichen Dufts waberte über das Festival-Gelände: Marihuana. Dealer zogen durch die Menge, hielten handgemalte Pappschilder mit der Aufschrift „Joints“ und „Trips“ in die Höhe.
Bald brach der Verkehr auf der Landstraße zusammen. Doch die festivalbegeisterten Angehörigen der Generation, die „Love and Peace“ zu ihrem Motto erklärt hatte, blieben friedlich. „Eine tolle Atmosphäre“, schwärmen Bobby und Luffy. Feuer wurden entzündet, Bratwürste auf improvisierten Grills gebraten.
Scheeßel 1973: Sechs Klos für 30.000 Besucher, ein Dorf im Ausnahmezustand
Andere Gäste machten sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf, schnell hatten die Bäcker kein einziges Brot mehr zu verkaufen, die Getränkeregale der Lebensmittler waren leergeräumt, und mitten auf den Bürgersteigen ließen junge Leute bei Sit-ins die Joints kreisen. Ortsbürgermeister Walter Spiering klönte am Rathausbrunnen mit Hippies, die sich dort die Füße wuschen, was der „Stern“ im Foto festhielt. Ein Dorf im Ausnahmezustand.
„Ich weiß gar nicht, ob ich an den zwei Tagen was gegessen habe, mir war es wichtiger, die Bands zu sehen“, erzählt Luffy. Bobby sah das ganz ähnlich. Das Motor-Cross-Gelände war in keiner Weise auf den Ansturm von geschätzt 30.000 Besuchern vorbereitet. Nur sechs Klos, kaum Wasseranschlüsse, davor endlose Warteschlangen. Am Stacheldrahtzaun entsprang bald ein gelber Fluss. Wer in die nahegelegenen Wälder flüchtete, traf überall auf Pärchen.
Lou Reed setzte sich auf der Bühne einen Schuss in die Vene – symbolisch
Für Bobby und Luffy öffnete das Festival die Tür zur Welt. Fasziniert folgten sie dem Programm auf der einzigen Bühne. Die Moderation übernahm Blueslegende Alexis Korner, der in den gefühlt endlosen Umbaupausen zur Gitarre griff. Außerdem am Mikro: Henning Venske. Für den NDR berichtete Lutz Ackermann, damals noch mit wilder Haarpracht.
Nicht alle angekündigten Bands kamen. Andere enttäuschten. Chuck Berry und Jerry Lee Louis stritten, wer als Erstes auf die Bühne durfte, spielten dann zum einzigen Mal in ihrem Leben einige Minuten zusammen und rauschten missvergnügt wieder ab, vermutlich um einige Tausender reicher, so erinnert sich Bobby. Lou Reed, bleich geschminkt und affektiert, setzte sich auf der Bühne symbolisch einen Schuss in die Vene – und wurde bei seinem ersten Auftritt auf dem Kontinent wütend ausgebuht, bevor wieder die Pausenmusik einsetzte: „Superstition“ von Stevie Wonder, das damals gerade die Charts stürmte.
Das Credo der beiden Dorfjungs: Niemals einen Schlips tragen
Der Hit des Festivals: „Hold Your Head up“ von Argent. Kaum erklingen die ersten Töne, sind Bobby und Luffy wieder in der Welt von damals: „Wir können auf diese Weise ein Leben lang 15 sein“, witzeln die beiden, die sich als Seelenverwandte bezeichnen. Die Musik war das, was damals Identitäten ausmachte, Cliquen einte und zusammenhielt. Zwischen Rex Gildo- und Rory-Gallagher-Fans waren die Grenzen scharf gezogen.
Kleidung diente weniger als modisches Aushängeschild, sondern war vielmehr ein Mittel, sich vom Establishment und voneinander abzugrenzen, macht Bobby klar. Das Credo der beiden Dorfjungs: Niemals einen Schlips tragen. Niemals die Haare abschneiden lassen. Und nach der Arbeit so viel Zeit wie möglich übrighaben für das, was wirklich wichtig ist: Fußball und Musik. – Geld? Total überschätzt, so dachten sie damals.
Vom Rockfan zum Party-DJ: Hauptsache, die Leute tanzen
Bobby, bis heute als Musiker und DJ tätig, gründete gleich nach dem Festival eine eigene Band, die im Keller des Siedlungshauses seiner Eltern – zwischen Waldrand und Friedhof – Stücke einübte, frei nach Gehör, denn Noten gab es nicht. Schon allein Bobbys Schlagzeug hätte weniger verständnisvolle Familien wohl zum Wahnsinn gebracht.
Später wandelte sich Bobby, der Rocker, zum Tanzmusiker: Jedes Wochenende war er auf Schützenfesten und Bällen unterwegs. Aus Überzeugung. Denn er fand seinen Spaß darin, Leute auf die Tanzfläche zu locken, sie aus dem Alltag zu befreien und so gesellschaftliche Schranken und zugeschriebene Rollenbilder ins Wanken zu bringen.
„Was war eigentlich deine erste Lieblings-Single?“
Luffy, der nach eigenen Aussagen „kein musikalisches Talent hat“, fing bei der Verwaltung der Stadt Rotenburg an. Und durfte dort zu seinem Glück bald Konzerte, Unterhaltungsprogramme und Sportereignisse organisieren, unter anderem betreute er 2006 den Fußball-WM-Neuling Trinidad Tobago, der in Rotenburg untergebracht war. „Ohne Musik“, so erkannten die Freunde, „können wir nicht sein“.
Doch wie authentisch waren sie selbst eigentlich noch, wie nah an ihren Wurzeln? Bobby wollte das auch von anderen wissen. „Was war eigentlich deine erste Lieblings-Single?“, fragte er aus einer Laune heraus die Gäste einer Party. „Jeder hatte was zu erzählen“, staunte er, eine Flut von Erinnerungen und Emotionen tat sich auf.
„Das hat Potential“, erkannten Luffy und Bobby. Und entwickelten daraufhin gemeinsam in Scheeßel das Infotainment-Format „Talkin bout my generation“ – in Anlehnung an den berühmten The-Who-Titel. Eine Mischung persönlicher Erinnerungen, Video-Mitschnitten und akribisch recherchierter Information über die Superstars der 70er-Jahre, von Janis Joplin über Pink Floyd bis zu David Bowie, den sie zuerst nicht mochten, weil er auf der Bühne immer Anzug trug. Das Publikum der unterhaltsamen Abende: Leute deutlich jenseits der 50.
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Viele davon dürften dabei gewesen sein, als 1973 das erste Rockfestival die heile Welt des Dorfes aus den Angeln hob. Und 1977, als beim zweiten Festival auf Scheeßeler Boden der Veranstalter pleite ging, viele Bands nicht kamen und wütende Fans die Bühne in Brand setzten.
Hurricane Festival 2024: Ed Sheeran, Sido und Deichkind zählen zu den Headlinern
Erst 20 Jahre später traute sich der Niederländer Folkert Koopmans, die Festival-Tradition wiederzubeleben. Das Hurricane ist inzwischen eine Erfolgsmarke. Dieses Jahr werden auch Bobby und Luffy gemeinsam hingehen. erstmals seit 1973. Mit Headlinern von Ed Sheeran über Avril Lavigne bis zu Sido und Deichkind wird längst nicht mehr nur Rock geboten.
Foodcourts, Walking Acts und After-Show-Partys sowie das Sehen und Gesehenwerden spielen inzwischen eine wichtige Rolle, so hat Luffy es zuletzt erlebt. Bobby ist nicht sicher, ob ihm das gefallen wird. Denn noch immer denk er am liebsten an die Zeit „als die Musik noch wichtig war“.