Scheeßel. Security, Dixi-Klos, Platin Lounge? Suchte man im Sommer 1973 in Scheeßel vergebens. Momente eines Festivals, das es so nie wieder gab.

  • Am 21. Juni ist es wieder soweit: Dann pilgeren Zehntausende Rockfans zum Hurricane Festival nach Scheeßel, ein kleines Dorf in der Heide
  • Was kaum jemand weiß: Schon die Anfänge des Kult-Festivals waren alles andere als klein
  • Bei der Premiere 1973 kamen Weltstars nach Scheeßel – es war wie Woodstock, nur in der norddeutschen Provinz

Eine wahre Flut von Erinnerungen hat der Abendblatt-Bericht über den Hurricane-Vorläufer, das Rockfestival 1973 in Scheeßel, ausgelöst. So auch bei Peter Thomann, der damals als Fotograf für das Magazin „Stern“ vom Spektakel auf dem Eichenring berichtete: „Ich habe beim Lesen gleich eine Platte von Jerry Lee Lewis aufgelegt“, berichtet der heute 83-Jährige.

Nicht nur das Festival, auch die Fotos schrieben Geschichte: So lief das Hurricane vor 50 Jahren

Noch immer ist das Foto, das er vom einzigen gemeinsamen Auftritt der Rock-Idole Jerry Lee Lewis und Chuck Berry geschossen hat, sein Lieblingsbild. Auf Thomanns ikonischer Schwarz-Weiß Aufnahme, die er vom Scheinwerfergerüst der Bühne aus machte, ist alles zu sehen: wie Chuck Berry stehend auf die Tasten eines Flügels einhämmert, auf dessen Deckel Lewis rücklings liegend ins Mikro singt.

Ein Bild, das Geschichte erzählt. Eine Geschichte, wie ein Dorf in der Provinz für einen Sommer zum Hotspot der Hippies wurde.

Wie Woodstock, nur in der Lüneburger Heide: Beim ersten Hurricane Festival 1973 zelebrierten die Besucher die Love-and-Peace-Kultur der Hippies.
Wie Woodstock, nur in der Lüneburger Heide: Beim ersten Hurricane Festival 1973 zelebrierten die Besucher die Love-and-Peace-Kultur der Hippies. © Peter Thomann | Peter Thomann

„Die Situation war damals für Publikum und Fotografen eine unvorstellbar andere als bei späteren Festivals“, sagt Thomann, der sich mit Foto-Reportagen aus dem In- und Ausland einen Namen gemacht hat. „Scheeßel, das war die deutsche Antwort auf Woodstock“, so seine Einschätzung.

Stern-Fotograf Peter Thomann: „Ich gehörte praktisch mit zur Crew“

Denn manche der großen Stars, die 1969 die 400.000 Fans in der Kleinstadt Bethel im US-Bundesstaat New York gerockt hatten, traten auch auf der Bühne des Scheeßeler Motocross Stadions inmitten von Rübenäckern und Kartoffelfeldern auf.

Thomann, der zuvor noch nie auf einem Festival gewesen war, mietete sich einen VW-Bus, tuckerte in die Provinz und parkte gleich hinter der Bühne ein. Von dort bekam er Zutritt zum Backstage-Bereich: „Ich gehörte praktisch mit zur Crew.“

30.000 Rockfans aus Australien, den USA, England, Frankreich, den Niederlanden kamen 1973 nach Scheeßel.
30.000 Rockfans aus Australien, den USA, England, Frankreich, den Niederlanden kamen 1973 nach Scheeßel. © Peter Thomann | Peter Thomann

Der Profi, der es von diversen Star-Auftritten gewohnt war, spätestens nach dem dritten Song hinausgebeten zu werden, fand in Scheeßel ideale Arbeitsbedingungen vor und konnte sich überall frei bewegen. „Natürlich war das ein Privileg und natürlich hatte ich im Vorfeld mit dem Veranstalter Werner Kuhls gesprochen. Aber nirgendwo sonst konnte ich mich als Fotograf so austoben“, sagt er.

Jeder konnte direkt vor der Bühne ein Zelt aufbauen

An nur einem Wochenende verknipste er 30 Kleinbildfilme. Sogar ein Flugzeug charterte der ambitionierte Mittdreißiger, um Aufnahmen zu machen von dem Gelände, auf dem 30.000 Rockfans aus Australien, den USA, aus England, Frankreich, den Niederlanden und natürlich aus Deutschland dicht an dicht campierten. Was Thomann imponierte: „Jeder konnte direkt vor der Bühne ein Zelt aufbauen oder seinen Schlafsack ausrollen.“ Sogar in einem Schlauchboot übernachtete ein Fan, der prompt vor Thomanns Kamera landete.

Zelte und Schlafsäcke, so weit das Auge reichte: Die maximale Freiheit galt für jede und jeden.  
Zelte und Schlafsäcke, so weit das Auge reichte: Die maximale Freiheit galt für jede und jeden.   © Peter Thomann | Peter Thomann

„Es war eine wahnsinnstolle Stimmung“, schwärmt der Fotograf noch heute, „ausgelassen und dabei total friedlich.“ Die Liebe zur Musik, zu den Bands habe im Publikum ein Gefühl der Gemeinschaft hergestellt.

Love and peace, das Motto der Hippiebewegung, nahmen dabei offenbar viele wörtlich. Der 33-Jährige aus Hamburg sah „überall knutschende Pärchen“ und zitiert amüsiert aus dem Stern-Artikel von 1973: „In den Umbaupausen drang zärtliches Stöhnen durch die Zeltwände nach draußen.“

Rockfans aus Australien, den USA, England und Frankreich campierten in Scheeßel dicht an dicht.
Rockfans aus Australien, den USA, England und Frankreich campierten in Scheeßel dicht an dicht. © Peter Thomann | Peter Thomann

Thomann war zwei Tage rund um die Uhr vor Ort. „So entstanden Bilder, die sonst niemals möglich gewesen wären“, sagt er. „Ich konnte von der Bühne direkt ins Publikum fotografieren und musste nur draufhalten, Motive gab es genug.“

Die Ausstattung des Festivalgeländes: mehr als primitiv. Die sanitären Bedingungen: katastrophal. Am zweiten Tag, so erinnert sich Thomann, ordnete der Amtsarzt die Bereitstellung von zusätzlichen Toiletten an, doch die Wasserspülung funktionierte nicht. Es gab nur eine Wasserleitung, die von fünf Hähnen gleichzeitig angezapft wurde.

Hurricane Festival in Scheeßel 1973: Bilder zeigen nackte Körper und entspannte Gesichter

Und viele Besucher kippten wegen schlechten Stoffs, den fliegende Rauschgifthändler vertickten, buchstäblich aus den Latschen oder erlitten einen Horror-Trip. Und trotzdem: Die Bilder von 1973 zeigen entspannte, freundliche Gesichter, nackte Körper und eine Freizügigkeit, die heute kaum noch denkbar wäre.

Peter Thomann wird es nicht vergessen: das Rockfestival in Scheeßel 1973. Die Fotos von damals hat er bis heute aufbewahrt. „Eigentlich wollte ich ein Buch draus machen, aber ich fand keinen Verleger“, sagt er. Ganz aufgegeben hat er seine Hoffnung aber noch nicht: „Die Festivalgeschichte in Deutschland gehört aufgeschrieben.“