Hamburg. Aus einer alten Demoaufnahme von John Lennon zaubern Paul McCartney und Ringo Starr mit aktueller Technik ein neues Lied.

„Und schließlich ist die Liebe, die du bekommst, nur so groß wie die, die du selber schenkst“, waren die letzten Worte der Beatles, auch wenn „The End“ vom Album „Abbey Road“ (1969) nicht der finale Song war, den John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr aufgenommen und veröffentlicht hatten. Außerdem wohnte diesem Ende ein Anfang inne. Denn der letzte Beatles-Song erscheint erst an diesem Donnerstag im Jahr 2023: „Now And Then“. Heute und damals.

Damals. Der 10. April 1970 gilt offiziell als das Ende der Fab Four, als Paul McCartney sein erstes Solo-Album präsentierte. Alle vier sollten nie wieder zusammen Musik machen, mehr als drei trafen nicht aufeinander, um sich bei Solo-Projekten gegenseitig zu unterstützen. Paul und John trafen sich im April 1976 in Johns Apartment im Dakota Building in New York und schauten zusammen „Saturday Night Live“ und wären fast spontan ins TV-Studio gefahren, um gemeinsam aufzutreten. Das war das letzte Treffen des Duos Lennon/McCartney, am 8. Dezember 1980 wurde Lennon von einem Fan erschossen.

1994 übergab Yoko Ono Demoaufnahmen von John Lennon an Paul McCartney

Als Lennon am 19. Januar 1994 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde, übergab seine Witwe Yoko Ono einige Demoaufnahmen an McCartney mit den unveröffentlichten Songideen „Grow Old With Me“, „Free As A Bird“, „Real Love“ und „Now And Then“. Schon einen Monat später begannen McCartney, Harrison und Starr in McCartneys Studio in Peasmarsh, Sussex, mit der Arbeit an „Free As A Bird“, „Real Love“ und dem Sichten alter Beatles-Bänder mit Demos, Studio-Takes ihrer Hits und was sonst noch in den Archiven schlummerte für die drei „Anthology“-Alben, die 1995 und 1996 erschienen.

Paul McCartney (rechts) und Ringo Starr 2014 gemeinsam auf der Bühne bei den  Grammy Awards im Staples Center in Los Angeles, Kalifornien.
Paul McCartney (rechts) und Ringo Starr 2014 gemeinsam auf der Bühne bei den Grammy Awards im Staples Center in Los Angeles, Kalifornien. © AFP | FREDERIC J. BROWN

Auch „Now And Then“, 1979 von Lennon am Klavier im Dakota Building auf Kassette mitgeschnitten, versuchten die drei zu einem Beatles-Song zu zaubern. Doch mit den damaligen technischen Mitteln der 90er-Jahre war das Unterfangen aussichtslos. Die Qualität der Aufnahme war miserabel, Lennons Stimme, Klavier und Störgeräusche waren nicht zu trennen. Die Fab Three waren geradezu frustriert, für Harrison war die Aufnahme „Abfall“. Man verschob die weitere Arbeit an diesem Lied ins Ungewisse, und als Harrison am 29. November 2001 an Lungenkrebs starb, wurde auch „Now And Then“ für lange Zeit begraben.

Peter Jacksons Doku „Get Back“ ist die Initialzündung für „den letzten Beatles-Song“

Erst mehr als 20 Jahre später war die Technik so weit. Für die 2021 erschienene Dokumentation „The Beatles: Get Back“ scharte „Der Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson von 2017 an ein Expertenteam um sich, um mit aktueller Digitaltechnik und künstlicher Intelligenz das Film- und Tonmaterial des 1970 veröffentlichten „Get Back“-Films zu restaurieren. Ein sensationeller Meilenstein nicht nur für die Beatles-Geschichte. Und die Initialzündung für Paul McCartney und Ringo Starr, sich erneut „Now And Then“ zu widmen.

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Sie stellten sich einfach vor, dass John sie gebeten hätte, sich das Lied anzuhören und ein paar Ideen beizusteuern, wie McCartney in der Featurette „Now And Then: The Last Beatles Song“ erzählt, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Er griff zu seinem Höfner-Bass und ergänzte die jetzt aus dem Demoband extrahierte kristallklare Stimme Lennons mit seinen typischen melodiösen Tieftönen. Ringo Starr steuerte seinen klassischen sturen wie absolut exakten Beat bei. Und George Harrison ist jetzt ebenso zu hören. In den 90er-Jahren hinterließ er beim Experimentieren mit „Now And Then“ Spuren mit elektrischer und akustischer Gitarre. Giles Martin, Sohn des 2016 gestorbenen Beatles-Produzenten George Martin, sorgte für ein Orchester-Arrangement. „Es ist ziemlich emotional, und wir spielen alle mit“, fasst McCartney das Patchwork zusammen.

„Now And Then“ klingt deutlich harmonischer als seinerzeit „Free As A Bird“

Paul zählt ein. „Ich weiß, es ist wahr“, beginnt Lennon, „wenn wir neu beginnen müssen, nun ja, werden wir sicher sein, dass ich dich liebe.“ Wobei unklar ist, wen er meinen könnte. Seine größte Liebe Yoko Ono? Oder Paul McCartney? „Now And Then“ klingt jedenfalls tatsächlich wie ein Beatles-Song, alle Zutaten sind da. Allerdings passen Arrangements und Gesangsharmonien nicht zu einer konkreten Album-Phase, „Rubber Soul“ oder „Let It Be“ zum Beispiel. Mit Fantasie ist „Now And Then“ die Comeback-Single der Beatles 1981, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre.

Aber wo „Free As A Bird“ seinerzeit noch sehr gewollt aus vielen Teilen in unterschiedlicher Audio-Qualität zusammengestückelt wirkte, erscheint „Now And Then“ über vier Minuten lang harmonischer, fast wie aus einem Guss. Das ist so beeindruckend wie geradezu beängstigend. Hier der Link zum Video, das den Song präsentiert. Es ist ab sofort bei YouTube und YouTube und diversen Musik­streaming­diensten (Spotify, Apple Music) verfügbar. Am 3. November soll noch ein neues Musikvideo zum Lied erscheinen.

Auch das „Rote“ und das „Blaue“ Album werden wieder neu aufgelegt

Ob das jetzt wirklich ein echter Beatles-Song ist, vergleichbar mit einem neuen Studioalbum der Rolling Stones, oder einfach nur ein Gimmick und ein Beispiel für Möglichkeiten und Grenzen der Popmusik in unserer Zeit, darf diskutiert werden. „Noch dichter an das Gefühl, ihn wieder bei uns im Raum zu haben, werden wir niemals kommen“, sagt Ringo Starr über das Erlebnis, zu Johns Stimme zu trommeln. Jedenfalls waren die Beatles, George Martin und ihr Umfeld schon in den 60er-Jahren immer ganz vorn dabei, wenn technische Innovationen große Sprünge zur Folge hatten. Die Entwicklung von der ersten Single „Love Me Do“ 1962 bis zu Pop-Kunstwerken wie dem Album „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ 1967 spricht für sich.

Der klassische Schnelldurchlauf durch die Entwicklung der Beatles von 1962 bis 1970 ist seit Jahrzehnten das Album-Doppel „1962–1966“ (das „Rote Album“) und „1967–1970“ (das „Blaue Album“). 1973 erstmals veröffentlicht, werden diese Hitsammlungen wieder und wieder neu aufgelegt, so auch dieses Jahr. Am 10. November erscheinen sie neu abgemischt in Dolby-Atmos-Qualität und um zwölf (rot) und neun (blau) weitere Lieder ergänzt, von frühen Coverversionen wie „Roll Over Beethoven“ (im Original von Chuck Berry) bis zu „Now And Then“. Damals wie heute schreiben die Beatles Geschichte „Eight Days A Week“, acht Tage die Woche.