Proteste gab es im Vorfeld gegen Volker Löschs bejubelte Satire über das Scheitern der Revolutionäre.

Hamburg. Über Geschmack lässt sich gut streiten. Dass Volker Lösch in seiner Inszenierung von Peter Weiss' "Die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" das Blumenstrauß-Attentat 1990 auf Oskar Lafontaine zitiert, musste nicht unbedingt sein. Dagegen hatte sein Epilog zum Stück zweifellos gewisse Brisanz: Der Chor der (echten) Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger verliest aus der im Manager-Magazin-Special "Die 300 reichsten Deutschen" veröffentlichten Rangliste 28 Hamburger Milliardäre und Millionäre. Vier von ihnen haben prompt reagiert. Sie drohten bereits am Premieren-Vortag mit einstweiliger Verfügung, falls Namen, Adresse und Vermögen genannt würden. Was dann doch zu hören war - über die Familien Robert Vogel (850 Millionen), Greve (900 Millionen), Schnabel (1,4 Milliarden), Hertz (6,3 Milliarden) oder Otto (Platz 5: 8,1 Milliarden) - kam zumindest in der Galerie gut an. Von den Rängen schollen Bravos, gellten Pfiffe, während im Parkett pikiertes Schweigen herrschte.

Aus Urheberrechtsgründen hat auch der Suhrkamp-Verlag die Titeländerung "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?" durchgesetzt. Lösch provoziert und ist Proteste gewohnt. 2004 wehrte sich Sabine Christiansen gegen seine Dresdner "Weber"-Aufführung, in der ihre Erschießung "angeregt" wurde. Jetzt im Schauspielhaus waren beim heftigen Schlussbeifall erstaunlicherweise keine Buhs zu hören - auch nicht gegen den Regisseur im nelkenroten Radikalinski-Hemd.

Volker Lösch mag es plakativ - genau wie seine Lehrmeister Bertolt Brecht, der ewige Rotfront-Kärntner Johann Kresnik oder der Ossi-Revoluzzer Einar Schleef. Deren Mittel - Körpereinsatz und rhythmisches Sprechen - setzt Lösch wirkungsvoll ein. Denn "Marat/Sade" eignet sich ausgezeichnet als Vorlage für sein sozialkritisches Chortheater. Die 24 Amateure, vom Schleef-Assistenten Bernd Freytag sprechtechnisch und körperlich von Ernst Hausmann trainiert, sind die eigentlichen Hauptdarsteller. Im Prolog vor dem Vorhang schreien sie dem Publikum persönliche Bekenntnisse ("Man hat nix und ist dann auch nix") oder Parolen ("Aber wir sind doch Opfer!") ins Gesicht, um dann den Aufstand zu proben. Die Armen fühlen sich aus unserer Gesellschaft weggesperrt, werden vom Regisseur in eine blaue Gummizelle (Cary Gayler) verbannt. In Schach gehalten vom Sozialtherapeuten Coulmier, tobt die Menge unterm Aldi-Lidl-Logo - Symbol für Ausbeuterei, Billigware und Konsumzwang - ihren Frust aus.

Das Weiss-Stück von 1964 dient Lösch als Vorlage für eine Agitprop-Revue, die das Scheitern der Revolutionäre von den Anfängen 1789 bis heute satirisch demonstriert: Mit Sade (Marion Breckwoldt) als zynischem Zuschauer und seinem Gegner, dem Revolutionär Marat (Achim Buch). Anfangs liegt der Idealist in der Badewanne, predigt dann als Lenin-Denkmal dem Volk, mischt es als Flower-Power-Guru mit Sex and Drugs auf, und wird beim Castro-Auftritt von Sade herablassend mit "Oooch, Fidelchen" empfangen.

"Der Mensch ist ein irrsinniges Tier", verkündet Sade und Breckwoldt macht plastisch die Probe aufs Exempel: Sie saugt sich mit einer Sonde Fett aus dem Wanst, um dann den blutigen Brei aus dem Glas schmatzend zu schlabbern. Der saftige "Ekel-Monolog" erhält Applaus, reizt jedoch auch zum Zwischenruf: "Marion, jetzt is' aber gut, es reicht!"

Doch Lösch bekommt nicht genug. Das Volk mampft Brotlaibe, übt kollektiv das Boxen zur Abreaktion des Sozialneids oder kriecht in Müllsäcke. Johann Kresnik lässt in diesen Körpertheater-Szenen grüßen, und der Marquis de Sade lacht hämisch: "Die werden dafür bezahlt, sich selber zu entsorgen."

Doch wenigstens einen Abend lang sind die gewohnten Verhältnisse vertauscht. Die Armen da oben auf der Bühne lesen den Reichen da unten im Parkett die Leviten. Sie fordern "Mitbürger, das Geld ganz abschaffen!", "Weg mit den Börsenheinis!", "Ackermanns Zeiten sind vorbei!", "Sozialarbeit für alle!" und brüllen am Schluss: "Wir brauchen einen echten Abgeordneten des Volkes." Trotz ihrer oft kabarettistisch platt anmutenden Form fällt Löschs Theater-Revolte szenenweise doch effektsicher aus. Ob sie allerdings in der Realität effektiv etwas zu verändern vermag, bezweifelt wohl nicht nur der einzig seinem messerscharfen Verstand vertrauende Marquis de Sade.


Marat, was ist aus unserer Revolution geworden? 3. u. 20.11., 4.12., 20 Uhr, Schauspielhaus, Karten: 24 87 13.