Die merkwürdige Allianz von ARD und ProSieben für “Eurovision Song Contest 2010“ - eine Kritik von Abendblatt-Autor Tino Lange.
Hamburg. „Wenn es um eine nationale Aufgabe geht, dann kenne ich keine Konkurrenten mehr, dann kenne ich nur noch Deutschland“ – was klingt wie des Kaisers Spruch im Sommer 1914, ist nur ein albernes Zitat des ARD-Programmdirektors Volker Herres. Das Ziel aber ist das gleiche: Burgfrieden.
Den gab es bisher nur bei wichtigen Anlässen wie dem „Kanzlerduell“, aber der aktuelle Burgfrieden kommt ja auch nicht von ungefähr: Um Deutschlands Nischenrolle bei der Mediensatire „Eurovision Song Contest“ aufzufrischen, schluckte die gebeutelte ARD die Kröte Stefan Raab und sucht nun gemeinsam mit ProSieben unseren „Star für Oslo“: Aus 4500 Kandidaten wurden vorab 20 Künstler ausgewählt, die in acht Ausscheidungsrunden vor einer Prominenten-Jury gegeneinander antreten, um sich am Ende jeder Folge der Wahl der TV-Zuschauer zu stellen. Der Sieger des Finales am 12. März singt dann am 29. Mai in Oslo um Punkte aus ganz Europa.
Die Erwartungen waren schon vor der TV-Premiere von „Unser Star für Oslo“ hoch, schließlich ist die Contest-Bilanz von Jury-Präsident Stefan Raab (Platz 5 als Interpret mit „Wadde hadde dudde da“ 2000, Platz 7 als Produzent von Guildo Horn 1998, Platz 8 als Produzent von Max Mutzke 2004) durchaus vorzeigbar und der Impuls seines eigenen Formats „Bundesvision Song Contest“ auf die hiesige Popwelt stärker messbar als die eurovisionären Desaster der letzten Jahre. Allerdings geriet auch Raabs letzte Pop-Entdeckung von 2008, Stefanie Heinzmann, nach nur einem Jahr zurück in den Strudel der medialen Null-Relevanz. Guildo Horn tritt zumindest in der Werbung noch in Möbelhäusern auf, Max Mutzke quält sich mit Singles in die Top-30.
Und doch soll Deutschland nun wieder nach frischen Talenten durchgeflöht werden. Stichwort: Casting - ein Begriff, der schon ähnlich viel Staub angesetzt hat wie die alle paar Wochen aus dem Lager gekarrten Kulissen der öffentlich-rechtlichen Volksverdummungsmusik. Was „Deutschland sucht den Superstar“ nie und „Popstars“ nur mit den No Angels (die beim European Song Contest 2008 zu recht gnadenlos abschmierten) gelungen ist, soll nun Rettungsanker Raab richten: Einen Künstler zu entdecken, der nicht schon nach dem Casting-Finale vergessen ist.
Dazu kommt die schwere Bürde des Vorentscheid-Gewinnners, wie Kai aus der Kiste Deutschland vom nationalen Eurovisions-Trauma (nur ein Sieg und dann auch noch von Nicole!) erlösen zu sollen, und sei es durch einen Platz unter den besten Zehn. ProSieben und ARD könnten sich dann gemeinsam auf die Schulter klopfen und anschließend wie gewohnt „taff – heute: rundum glückliche Promis“ (ProSieben) und „Das Frühlingsfest der Volksmusik“ (ARD) senden. Was sie natürlich auch nach „Germany: zero points – L'Allemagne: zéro points“ machen würden.
Aber bis dahin ist noch Zeit, erst galt es, am Dienstag den Auftakt zu überstehen. Und das war nicht einfach bis zum ersten Werbeblock (Freude schöner Götterklumpen mit Paul Potts und Rainer Calmund). Die bemüht "lustigen" Moderatoren Matthias "Hier rockt das Haus" Opdenhövel und Sabine Heinrich betonten zuerst den "historischen Moment der ersten Kooperation von öffentlich-rechtlichen und Privatsendern", der so historisch - Kanzlerduell - ja nicht ist.
Dann wurde ein Auto mit Navi und Bluetooth präsentiert. Nach einer kurzen Vorstellung der Tagesjury mit Raab, Yvonne Catterfeld (Referenzen: hübsch, ein paar Hits) und Marius Müller-Westernhagen (Referenzen: Bundesverdienstkreuz, "Sexy") ging es los mit dem ersten Kandidaten, die sich, live und begleitet von der Band Heavytones, an großen Hits von Robbie Williams über Pink bis zu den Eagles versuchten, um sich anschließend in der Regel ein "schön" von Yvonne Catterfeld, "einige Schwächen" von Stefan Raab und "zu glatt, Intonationsprobleme, braucht Arbeit, zu schwarz für Weiße" vom Moaaarius abzuholen.
Mal bewies die Jury ehrlichen Kritikergeist und zeigte sich bekümmert über Johannes Böhms mies geflüsterte Seal-Hommage "Crazy", mal winkte sie schaurige Vorträge wie Michael Kraus mit Paolo Nutinis "Loving You" mit einem "das hat Eier" (Raab) oder "You rock!" (Westernhagen) durch. Gab es aber nun Kandidaten mit dem Zeug zum Contest? Mit Ausstrahlung, Energie, Haltung, Aussehen und Gesangstalent?
Drei dürften ein fast komplettes Gesamtpaket bieten: Die jüngste im Wettbewerb, Lena Meyer-Landrut (18), sang Adeles "My Same" und begeisterte mit einer mutigen Performance, kindlicher Bühnenfreude und - in der Tat - "Star-Appeal" (Westernhagen). Cyril Krueger macht schon vom Namen was her und überzeugte mit "Hotel California" als Max Mutzke 2.0 - sprich mit vollerem Haar und offenen Augen beim Singen.
Katrin Walter zeigte sich mit Pinks "Nobody Knows" als angehende Gala-Chanteuse im klassischen Eurovisions-Stil, als es noch um Chansons ging. Und Kerstin Freking könnte trotz ihrer etwas zu zurückhaltener Darbietung mit ihren Zöpfen für einige Punkte aus der Ukraine gut sein. Das Publikum an den Bildschirmen jedenfalls schickte diese vier ebenfalls weiter in die nächste Runde, dazu die stimmlich starke, aber etwas... bodenständige Meri Voskanian.
Aber ist da schon unser Star für Oslo dabei? Zuerst kommen nächste Woche fünf weitere Kandidaten (und mit Peter Maffay und Sarah Connor zwei neue Juroren an der Seite von Raab) dazu, dann geht es in die Knochenmühle der "Vocal-Coachings" und der Ausscheidungsrunden. Und der Song für Oslo und die Teilnahme des MDR-Fernsehballetts (das bringt sicher einen oder zwei Punkte) ist auch noch nicht bekannt. Noch also steht Deutschland bei null Punkten. Aber vielleicht geht da was bei diesem Burgfrieden, bei dem sich sogar ein Westernhagen mal überraschend einsichtig zeigte: "Das erste, was ihr lernen müsst, ist Kritik anzunehmen und daraus zu lernen". Sieh einer an!