Hamburger. Es mangelt an allem: Personal, Gehalt – vor allem aber an Zeit für die Kinder, die sie dringend benötigen. Pädagogen berichten anonym.

Wenn Bianca (alle Namen von der Redaktion geändert) nach ihrer Schicht im Kinderschutzhaus nach Hause kommt, dann will sie nur noch, „dass mich nichts und niemand mehr stört. Ich will nicht zum Sport, ich will mich nicht mit Freundinnen treffen, ich will einfach nur noch die Türen zumachen.“

Trotzdem leistet sie an einem unwirtlichen Dezemberabend noch „Überstunden“ – um sich mit dem Abendblatt zu treffen und von all dem Leid und der Last zu berichten, die sie täglich im Beruf durchstehen muss. Sie muss loswerden, was in „ihrem“ Kinderschutzhaus des Landesbetriebs für Erziehung und Beratung (LEB) der Stadt Hamburg los ist. Die Öffentlichkeit müsse wissen, dass das System vor dem unmittelbaren Kollaps steht. Und Bianca selbst eigentlich auch.

Hamburg lässt seine Kinder im Stich, sagt sie. In den Kinderschutzhäusern der Stadt – ausgerechnet dort, wo die vulnerabelsten Kinder untergebracht sind – würde nur noch aufbewahrt statt Fürsorge betrieben. Zu groß ist der Mangel: an Mitarbeitern und Zeit für die Kleinen, aber auch an einer gerechten Entlohnung für die Angestellten im öffentlichen Dienst fehle es.

„Jeder Tag Großkampftag“: Hamburgs Kinderschützer schlagen Alarm

Die Zustände im Kinderschutz, die Bianca beschreibt, sind unhaltbar. Viel zu viele Kinder, teils in extremen Krisensituationen, kämen auf deutlich zu wenige Fachpädagogen und Einrichtungsplätze. In der Folge verkommen die Schutzhäuser zu bloßen Unterkünften, in denen Kindern, die es am dringendsten brauchen, die nötige Aufmerksamkeit einfach nicht geschenkt werden kann. „Ein ständiges Stopfen von Löchern“ sei das, klagt Bianca. Es bleibe keine Zeit, um auf die oftmals stark traumatisierten Mädchen und Jungen einzugehen.

Nur ungern erinnert sich die Pädagogin beispielsweise an den Geburtstag eines der im Schutzhaus untergebrachten Kinder vor Kurzem: „Ich hatte keine Zeit, mit diesem Kind zu feiern“, gibt Bianca zu. „Ich musste mir sagen: ,Geschenk hat sie bekommen, Kuchen gab‘s auch – der Geburtstag ist also abgehakt.‘“ Zusätzliche Aufmerksamkeit für die Kleine, wenigstens an ihrem Ehrentag? Ist nicht drin.

Kinderschutz in Hamburg am Limit: „Manchmal kann ich einfach nicht mehr“

Lange hält das keiner der Fachpädagogen aus, zumal die Kinder – zwischen einem und sechs Jahre alt – dicke Päckchen mit sich herumtragen und viel Aufmerksamkeit fordern und verdient hätten. „Manchmal kann ich einfach nicht mehr. Dann kann ich die Kinder nicht mehr hören, den Lärm nicht mehr ertragen“, erzählt Bianca. „Dann sage ich mir: ,Sei geduldig, sei geduldig‘ – und kann trotzdem nicht so auf die Kinder eingehen, wie es nötig wäre. Weil ich einfach so am Ende bin. Weil ich komplett überlastet bin.“

Große Teile des Personals würden der psychischen Belastung nur wenige Jahre standhalten, bevor sie abwandern: „Es ist schwierig, genug Personal zu gewinnen, auf jeden Fall. Aber noch viel schwieriger ist es, das Personal zu halten“, sagt die Pädagogin. Erst vor Kurzem habe wieder eine junge Kollegin gekündigt, sagt Bianca. „Sie konnte die Arbeitsbedingungen einfach nicht mehr länger ertragen. Das hat sie auch mehrmals ganz deutlich gesagt, aber es gab niemanden, der sie bei den Diensten unterstützen konnte.“

Das Einarbeitungskonzept, das neuen Mitarbeitern beim Einstieg in die körperlich und emotional fordernde Tätigkeit unterstützen soll, „das ist reine Fiktion“ , sagt Bianca. Viel zu früh müssten neue Kollegen alleine Schichten stemmen. Heillose Überforderung ist das, für Beschäftigte und Kinder gleichermaßen.

Kinderschutzhäuser: Personalschlüssel sieht nur auf dem Papier gut aus

Auf dem Papier sieht der Personalschlüssel für die Kinderschutzhäuser in Hamburg traumhaft aus: 1 zu 0,84. In Wirklichkeit ist die Lage prekär. Die Menschen, die sich hinter den Zahlen verbergen, die stünden zwar auf dem Dienstplan, sagt Bianca – aber weder Urlaubs- und Krankentage noch das Schichtsystem seien einberechnet.

Das Kinderschutzhaus ist keine Kita. Hier muss 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche pädagogisches Fachpersonal vorgehalten werden. Und so bedeutet der vermeintliche Vorzeigepersonalschlüssel von 1 zu 0,84 oftmals, dass Bianca mit den sieben Kindern – das heißt Vollbelegung, weil quasi alle Kinderschutzhäuser geradezu überlaufen – allein ist. Wenn sie einen Wunsch frei hätte? Dann gäbe es mindestens eine Doppelbesetzung. Immer und kompromisslos, betont sie.

„Es ist jeden Tag Großkampftag“ beim ASD in Hamburg

„Es ist jeden Tag Großkampftag.“ So fasst es Patrizia zusammen, die Biancas Probleme so gut wie nur wenige nachvollziehen kann. Patrizia arbeitet für den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), der als Teil des Jugendamts zu den Bezirksämtern gehört. An diesem Dezemberabend hat sie bereits einen harten Dienst hinter sich: „Heute hatte sich die Hälfte des Teams krankgemeldet“, sagt Patrizia mit einer Intonation, die darauf schließen lässt: Das ist eher die Regel als die Ausnahme.

Immer mehr Fälle, die heute „Zuständigkeiten“ heißen, müssen die ASD-Mitarbeiter übernehmen. Im Durchschnitt sind es derzeit 86 je beschäftigtem Sozialpädagogen. Die Empfehlung aus Reihen des ASD wäre eine Fallobergrenze bei 25 oder 30. Familien, bei denen das sprichwörtliche Wasser noch nicht bis zum Hals steht, kann sich Patrizia kaum widmen, sagt sie.

Beim ASD gebe es immer nur Notfalldienste, da heiße es immer nur Feuerwehr spielen. An Präventionsarbeit sei hingegen kaum zu denken – dabei ist die essenziell, um ernste Problemlagen bis hin zur Kindeswohlgefährdung abzuwenden, bevor sie überhaupt entstehen.

Die enorme Belastung ist im fehlenden Personal begründet, sagt Patrizia. Verständnis hat sie für die Situation trotzdem nicht: „Wir sind doch sehenden Auges in den Fachkräftemangel reingerannt“, sagt sie. Viel eher hätten Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Mitarbeiter zu akquirieren. Jetzt ist das System marode und festgefahren. Mit der steigenden Arbeitsbelastung wird es immer schwieriger, neues Personal zu finden – und das vorhandene wird zunehmend verschlissen.

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Interviews mit Pädagogen zeigen: Überall fehlt es an Personal

Bianca und Patrizia sind nur zwei von Hunderten überlasteten Beschäftigten im sozialen Bereich in Hamburg. Das zeigen 1500 Interviews, die gewerkschaftlich Aktive seit Anfang November geführt haben. Die Mehrzahl der durch die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di Befragten – darunter zahlreiche Mitarbeiter aus dem ASD, aus Kinderschutzhäusern und -gruppen, Schulen und Sonderschulen – gab dabei an, dass sie selten oder nie ihren beruflichen Ansprüchen gerecht wird.

In den 46 Hamburger Teams des ASD fehlen laut den befragten Beschäftigten 230 Sozialpädagogen und 92 Verwaltungsfachkräfte, um einen Kinder- und Jugendschutz zu gewährleisten, der den pädagogischen Ansprüchen der Fachkräfte entspricht. In 14 der 19 Teams aus Hamburger Kinderschutzhäusern und -gruppen, wo die Befragung durchgeführt wurde, ist derzeit tagsüber oft eine Fachkraft für acht bis neun Kinder verantwortlich. Die Mitarbeiter haben angegeben, dass je nach Schichtmodell ein Personalschlüssel von einer Fachkraft für ein bis vier Kinder benötigt würde, um ihren Ansprüchen und Bedürfnissen gerecht zu werden.

Studierte Fachkraft: „Ich bekomme Wohngeld! Das kann doch nicht richtig sein“

Um die fehlenden Mitarbeiter zu locken, müssten auch die Gehälter aufgebessert werden, findet Patrizia. „Ich brauche keine Millionen“, sagt Patrizia, die in ihrem Haushalt Alleinverdienerin ist. „Aber derzeit bekomme ich Wohngeld! Das kann doch nicht richtig sein. Ich habe einen Master gemacht, da muss doch das Geld wenigstens zum Leben reichen, wenn ich schon einen so wichtigen Job mache.“

Könnte sie es beim Weihnachtsmann erbitten, würde die Sozialpädagogin trotzdem nicht nach Geld fragen. „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann dass die Arbeitszeit reduziert wird“, sagt sie, damit die Belastung etwas sinkt und mehr Regenerationszeit da ist. Den Beruf habe sie ja nicht umsonst ergriffen, sondern aus Leidenschaft. Es gebe schließlich nichts Schöneres, als wenn einem Kind geholfen werden kann. Es Danke sagt. Umso wichtiger ist der Pädagogin deshalb, auch adäquat helfen zu dürfen.

Hamburg: Lässt die Stadt ihre Kinder im Stich?

Und das ist vielleicht die Essenz dessen, was die beiden Kinderschützerinnen berichten: Die tägliche Überlastung, abwandernde Mitarbeiter, freie Stellen, Langzeiterkrankungen, Unterbezahlung – all das trifft nicht nur das Personal, sondern mittelbar auch die Kinder. Kinder, die ohnehin aus komplizierten Familienstrukturen kommen, die eigentlich besondere Aufmerksamkeit, Fürsorge und individuelle Förderung notwendig haben.

Hier müsse Hamburg doch heute investieren – damit wir morgen keine Systemsprenger haben, fordern Bianca, Patrizia und mit ihnen Hunderte weitere Kinderschützer. Warum lässt Hamburg seine Kinder im Stich?, fragen sich die beiden Pädagoginnen. Vielleicht, weil sich mit Sozialausgaben keine Wahlen gewinnen lassen, mutmaßt Bianca.