Hamburg. Ein Amtsvormund berichtet über seine Arbeit, die Wut im Bauch und den Respekt vor Eltern, die das Sorgerecht zurückbekommen haben.

Seit acht Jahren ist Herr R. (Name wegen Datenschutz unkenntlich) Amtsvormund im Bereich Jugend- und Familienhilfe beim Bezirksamt Hamburg-Mitte. Der Sozialpädagoge, der vorher im Kinder-und Jugendnotdienst gearbeitet hat, betreut Mädchen und Jungen, die aus ihren Familien genommen werden, weil sie dort gefährdet waren, misshandelt oder missbraucht wurden.

Er setzt sich sehr für seine Mündel ein, stellt auch Spendenanträge für sie beim Verein „Hamburger Abendblatt hilft“. So finanziert der Verein einem Kind eine Reittherapie, hat für andere Fahrrad- und Kleidungskäufe sowie Nachhilfestunden ermöglicht. Im Podcast „Von Mensch zu Mensch“ berichtet der Jugendamtsmitarbeiter über seine oft schwierige Arbeit mit den traumatisierten Kindern.

Kindeswohlgefährdung: ASD beantragt Entzug des Sorgerechts

Wie kommt ein Kind zu Ihnen?

Der Allgemeine Soziale Dienst, kurz ASD, eine Abteilung des Jugendamts, verschafft sich zunächst einen Überblick darüber, ob es in einer Familie eine konkrete Kindeswohlgefährdung gibt. Wenn dies der Einschätzung des ASD zufolge der Fall ist, beantragt der ASD einen Entzug des Sorgerechts beim Familiengericht. In diesem Fall bedeutet das: Das Kind wird aus der Familie genommen, kommt vorübergehend in eine Schutzgruppe, eine Bereitschaftspflegefamilie oder wird beim Kinder- und Jugendnotdienst in Obhut genommen. Wird den bis dahin Sorgeberechtigten das Sorgerecht entzogen und dem Jugendamt, Abteilung Amtsvormundschaften, übertragen, schaue ich gemeinsam mit dem ASD, welche Dauerunterbringung für das Kind am besten ist.

Wie viele Fälle betreuen Sie gleichzeitig, und wie oft können Sie die Betreuten sehen?

Derzeit betreue ich 30 Mündel im Alter zwischen drei und 18 Jahren. Der Gesetzgeber lässt sogar eine maximale Anzahl von 50 Mündeln zu und schreibt einen monatlichen Mündelkontakt vor. Nach Möglichkeit sollte es ein direkter Kontakt vor Ort sein, es kann aber auch ein Telefonkontakt sein. Hauptaufgabe des Vormunds ist ja sicherzustellen, dass es dem Mündel gut geht.

Sie entscheiden anstatt der Eltern – sprechen Sie also auch in jedem Fall mit den Lehrern und dann täglich mit den Erziehern Ihrer Mündel?

Für die täglichen Belange, wie zum Beispiel routinemäßige Arztbesuche und Kontakte zur Schule, sind die Erzieherinnen und Erzieher vor Ort zuständig. Dafür bekommen sie von mir eine Vollmacht. Aber ich bin in der Gestaltung frei, ich kann mich jederzeit, wenn ich den Eindruck habe, in der Einrichtung oder Schule läuft etwas unrund, einschalten und ein Gespräch suchen.

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Aber wie können Sie bei nur einem Besuch im Monat wirklich beurteilen, ob nicht vielleicht doch etwas in einer Pflegefamilie oder Einrichtung falsch läuft? Es könnte Ihnen ja auch etwas vorgespielt werden.

Selbstkritisch muss ich zugeben, dass es auch mir einmal passiert ist, dass mir etwas über einen längeren Zeitraum vorgemacht wurde. Die Basis, um das einschätzen zu können, ist ja der gute Kontakt zu meinem Mündel, und ich habe da immer die Hoffnung, dass das Kind mich anspricht, wenn es etwas nicht versteht. Dann hake ich natürlich nach.

Wann Kinder wieder zurück zu den Eltern können

Ist es denn Ihr Ziel, das Kind wieder zur Familie zurückzuführen, und bleiben die meisten Ihrer Mündel in Pflegefamilien oder Wohngruppen?

Die meisten bleiben in öffentlicher Erziehung und damit in Obhut des Jugendamts. Aber es gibt Fälle, wenn ein Elternteil zum Beispiel aufgrund einer Erkrankung das Sorgerecht vorübergehend abgeben muss, dass das Kind wieder zurückkann. Auch wenn sich Eltern in der Zusammenarbeit mit uns einsichtig zeigen und ihre Probleme bearbeitet haben, kann das Kind zurück. Dazu muss ich einen Antrag beim Familiengericht stellen, das Sorgerecht wieder zurückzugeben. Das habe ich bisher allerdings erst einmal gemacht und hatte größten Respekt vor der betreffenden Mutter. Der Klassiker ist jedoch, dass die Eltern oft nicht in der Lage sind zu erkennen, dass sie die Fürsorge für ihr Kind nicht ausüben können. Ich verstehe die Empörung der Eltern, die sagen: „Das Jugendamt hat mir mein Kind weggenommen.“ Das ist objektiv auch so. Meine Vormundschaft beginnt mit dieser Ungeheuerlichkeit. Aber die Eltern haben ja auch jeden Tag die Chance, ein Beratungsangebot von uns anzunehmen und Hilfe bei der Bearbeitung ihrer Problematik zu bekommen.

Ich finde es erstaunlich, wie viel Verständnis Sie für die Eltern haben. Sie bekommen doch auch mit, was sie ihren Kindern angetan haben: Sie haben sie missbraucht, misshandelt, schwerst traumatisiert. Macht Sie das nicht auch wütend?

Ich bin kein Roboter, klar bin ich auch mal wütend. Aber mein Fokus als Amtsvormund ist, das Beste für die Kinder rauszuholen, Wut bringt inhaltlich nichts. Denn das Kind merkt mir an, wenn ich Antipathien gegen seine Eltern hege, und egal, welche schlimmen Erfahrungen Kinder bei ihnen gemacht haben, sie haben dennoch immer den Wunsch, zu ihnen zurückzugehen. Ich versuche mich deswegen, so gut es geht, von einer Verurteilung der Eltern frei zu machen.

Und wie machen Sie sich von Schicksalen der Kinder frei? Nehmen Sie sie innerlich mit nach Hause?

Wir haben zum Glück Supervision. Trotzdem nehme ich einige Fälle natürlich mit nach Hause.

In einem Antrag an den Abendblatt-Verein haben Sie einmal Folgendes geschrieben: „Als Vormund ist man oftmals die einzige Konstante, welche die Kinder und Jugendlichen durch deren Leben begleitet.“ Ich habe von Betreuern gehört, dass die Kinder den Erwachsenen oft misstrauen, weil sie nie Verlässlichkeit von ihnen erlebt haben – wie versuchen Sie, gerade am Anfang, ihr Vertrauen zu bekommen?

Man kann viel vom Kind selber lernen. Schon beim ersten oder zweiten Kontakt habe ich die Augen und Ohren ganz weit auf. Das Problem mit der Verlässlichkeit der Eltern finde ich jedoch manchmal besonders bitter, wenn sie nämlich überhaupt nicht mehr in der Lage sind, ihr Besuchsrecht wahrzunehmen. Ich habe gerade Eltern vor Augen, bei denen mir die Einrichtungsleitung, in der mein Mündel wohnt, immer berichtet, die Eltern seien wieder nicht zum vereinbarten Besuch der Kinder vorbeigekommen. Das ist ein Fallstrick für einen Vormund, weil man durch die Kinder dann mitunter überhöht wird. Denn sie können sich darauf verlassen, dass ich sie regelmäßig mindestens einmal im Monat besuchen komme. Ich richte auch meine Urlaube nach Möglichkeit so ein, dass die Kinder gar nicht mitbekommen, wenn ich weg bin.

Sie setzen sich sehr ein für Ihre Schützlinge, bitten den Abendblatt-Verein öfter um Spenden für sie. Gibt es von staatlicher Seite nicht genügend Geld für Kleidung, Nachhilfe, Laptops oder Fahrräder?

Es gibt von der staatlichen Jugendhilfe schon Gelder für Bekleidung, Kosmetika und Ähnliches, die sind angemessen, jedoch oft nicht ausreichend im Vergleich zu Kindern im „normalen“ Familienkontext. Ich stelle Anträge beim Abendblatt-Verein, wenn ich sehe, dass es wirklich hilfreich wäre, wenn der Junge oder das Mädchen zum Beispiel ein Fahrrad hätte. Und wenn Kinder keine Kleidung mitbringen, nutzen mir die monatlich 50 Euro von staatlicher Seite wenig, denn das Kind muss ja sofort eingekleidet werden.

Haben Sie auch schon mal ein Kind abgegeben, weil Sie es nicht in den Griff bekommen haben? Es gibt ja den Begriff Systemsprenger. Das sind Kinder, die aus allen Einrichtungen herausfliegen.

Ich tue mich schwer mit dem Begriff Systemsprenger, das ist eine Dämonisierung eines Kindes. Aber ich habe alle Problemlagen. Wenn ein Kind zum Beispiel durch Gewalt massiv traumatisiert ist, wird es im Umgang mit anderen nicht friedlich sein. Allerdings müssen damit vor allem mehr die Betreuer als ich umgehen können, davor habe ich großen Respekt.

Mit 18 Jahren fallen die Jugendlichen normalerweise aus der Betreuung heraus. Mit 18 ist man aber nicht unbedingt reif – wer kümmert sich hinterher um diese Jugendlichen?

Meine Vormundschaft endet zwar, aber die Jugendhilfe geht dann noch weiter. Die Jugendlichen können einen Antrag auf weitere Betreuung bis zum 21. Lebensjahr stellen. Einige Mündel halten auch den Kontakt zu mir, darüber freue ich mich sehr. Gerade hat mir eine junge Frau erzählt, dass sie nun eine tolle Ausbildung gefunden hat. In dem Moment denke ich: Du hast wohl nicht alles falsch gemacht.