Hamburg. Die Einrichtungen kämpfen gegen Überlastung und Personalmangel – die Zahl für Inobhutnahmen steigt. Die „Kinder-Anwälte“ schlagen Alarm.
Um Kinder vor Gewalt in der Familie, Suchtproblemen und Überforderung der Eltern zu schützen, können sie in Hamburger Kinderschutzhäusern untergebracht werden – so lange, bis die Rückkehr in die Familie oder die Unterbringung in einer Pflegefamilie möglich ist.
Überlastete oder fehlende Mitarbeiter, deutlich mehr in Obhut genommene Kinder und längere Aufenthaltsdauer – im Februar kritisierte die Linke in einer Großen Anfrage die Situation in den Hamburger Kinderschutzhäusern, bezeichnete sie als „dramatisch“. Jetzt macht auch der Arbeitskreis Hamburger Verfahrensbeistände – eine fachliche Austauschrunde von „Kinder-Anwälten“ – in einem offenen Brief auf die „anhaltende Notlage“ aufmerksam und fordert vom Senat geeignete Maßnahmen.
Hamburger Kinderschutzhäuser: „Auslastung ist exorbitant“
Die Situation werde seit den vergangenen Jahren immer schwieriger, sagt Hermann Josef Ligthert, einer der Rechtsanwälte des Arbeitskreises. So seien familienrechtliche Konstellationen komplexer, Aufklärung und rechtliche Handhabe seien schwieriger geworden.
Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeige: „Die Auslastung der Kinderschutzhäuser ist exorbitant“, sagt Ligthert, der in Gerichtsverfahren die Interessen von Kindern vertritt. So würden immer mehr Kinder in Obhut genommen, Probleme nähmen zu, „weil nicht ausreichend Personal in den Jugendämtern und den Kinderschutzhäusern zur Verfügung steht“.
Auch die Antwort des Senats aus der Linken-Anfrage ergab, dass Kinderschutzhäuser und Kinderschutzgruppen des Landesbetriebs Erziehung und Beratung „aktuell stark belegt“ seien. Trotzdem stehe das Kindeswohl im Vordergrund. So waren im Januar dieses Jahres 63 Kinder untergebracht, im März 65. Im Oktober 2023 waren es 57 Kinder.
Hamburger Einrichtung: Kinder bleiben oft sehr lange in Obhut
In der Regel werden Kinder unter sechs Jahren in Kinderschutzhäusern von Erziehern und Sozialpädagogen im Schichtdienst rund um die Uhr betreut. „Die Hamburger Kinderschutzhäuser in kommunaler Trägerschaft dienen mit ihren rund 100 Plätzen der sicheren Unterbringung von Babys und Kleinkindern im Falle einer Inobhutnahme“, heißt es in dem offenen Brief.
Der Allgemeine Soziale Dienst führt eine Inobhutnahme im Einzelfall durch und findet eine geeignete Unterbringung. „Dies muss für kleine Kinder nicht immer ein Kinderschutzhaus sein, eher werden familiäre Unterbringungen im sozialen Umfeld oder bei Bereitschaftspflegefamilien gesucht“, erklärt Wolfgang Arnhold, Sprecher der Sozialbehörde Hamburg. In keinem Fall werde eine notwendige Inobhutnahme aufgrund von Platzmangel in einer Einrichtung nicht durchgeführt, so der Sprecher weiter.
Das Wohl der Kinder solle während der notwendigen Unterbringung in einem der sieben Hamburger Standorte bedürfnisgerecht sichergestellt werden – und das so kurz wie möglich. Das Problem: „Die Verweildauer dieser Kinder ist häufig sehr lang. Es ist keine Seltenheit, dass ein Jahr oder mehr als ein Jahr erreicht wird“, sagt der Fachanwalt für Familienrecht.
Kinderschutz in Hamburg: Die Anzahl an Pflegefamilien geht über die Jahre zurück
Das liege zum einen an familiengerichtlichen Verfahren, die länger dauern würden. Zu anderen stünden nicht ausreichend Pflegefamilien zur Verfügung. Die Antwort des Senats zeigt: Zwischen 2020 und 2023 sank die Anzahl der Pflegefamilien von 977 auf 893. Im gleichen Zeitraum verringerte sich die Anzahl der Bereitschaftspflegefamilien von 60 in den Jahren 2020 und 2021 auf 58 in 2022 und schließlich auf 50 im vergangenen Jahr.
Und: „Kinder können oft nicht in den elterlichen Haushalt zurückgeführt werden, weil Hilfe auch oft nicht angenommen wird“, so der 63-Jährige. In Einzelfällen sei die Dauer „kindeswohlschädlich“, heißt es in dem Brief weiter.
Auf Abendblatt-Anfrage erklärt die Sozialbehörde: „Der Senat kommentiert in ständiger Praxis keine Offenen Briefe.“
Hamburger Kinderschutzhäuser: Fehlende Bindung im Kindesalter kann negative Folgen haben
„Vom Jugendamt aus schwierigsten Lebensverhältnissen in Kinderschutzhäusern in Obhut genommene Säuglinge und Kleinkinder sind in der Regel emotional bereits erheblich belastet“, heißt es vom fachlichen Ausschuss der „Kinder-Anwälte“. Die Inobhutnahme soll sie vor weiteren schädigenden Belastungen schützen. In Einrichtung brauche es deshalb nicht nur eine körperliche Versorgung, sondern auch eine emotionale.
Kinder seien im Alter von bis zu drei Jahren in einer Phase, die das Bindungsverhalten beeinflusst, so Ligthert. In Kinderschutzhäusern gebe es keine Möglichkeit, eine ausreichend sichere Bindung zu einer primären Person zu entwickeln. In der Folge könne es zu Störungen in der Entwicklung von Kindern kommen. „Das können wir häufig in familiengerichtlichen Verfahren ablesen, wenn es dann später im Leben der Kinder problematisch wird – häufig genug aufgrund dieser Erfahrungen“, sagt der Rechtsanwalt.
Anwälte wünschen sich primäre Bezugsperson für Kinder in Hamburger Einrichtungen
Die Anwälte fordern deshalb: „Sie benötigen dringlich die eine, primäre Bezugsperson, um in ihrer emotionalen Entwicklung möglichst nachreifen und wachsen zu können.“ Doch in den Einrichtungen gebe es diese Person aus strukturellen Gründen nicht. „Dort wird im Schichtbetrieb gearbeitet, und das aufgrund von erheblichen Unterbesetzungen seit Längerem auch noch unter schwierigsten Bedingungen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und Kinder“, heißt es in dem Schreiben.
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So gab es im Jahr 2022 15 Überlastungsanzeigen, im vergangenen Jahr 13, wie aus der Senatsantwort hervorgeht. In den Jahren zuvor gab es keine Anzeigen dieser Art. Im Bereich Kinderschutz sind in Hamburg laut Sozialbehörde aktuell sechs Stellen unbesetzt. Die Hälfte davon entfällt auf Kinderschutzhäuser.
Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung strebe eine vollständige Besetzung der Stellen an. In Belastungssituationen schaffe er regelmäßig Abhilfe durch Maßnahmen wie Gespräche mit den Beschäftigten, Personalbeschaffung über Zeitarbeit, Notfallpläne und Angebote durch Honorarkräfte, so Arnhold.
Kinder-Anwälte fordern Sensibilisierung für das Thema
Die „Kinder-Anwälte“ wollen deshalb von der Hansestadt Hamburg in Erfahrung bringen: Was passiert konkret zur Abhilfe? Werden besondere Anstrengungen oder Kampagnen zur Gewinnung von Pflege- und Bereitschaftspflegepersonen unternommen? Werden ausreichend kreative und zeitgemäße Wege eingeschlagen, um der Notlage dieser Kinder gerecht zu werden?
Neben Antworten auf diese Fragen wünscht sich Ligthert, dass Verantwortliche von Stadt und Sozialbehörde für das Thema sensibilisiert würden. Auch erhofft sich der 63-Jährige eine Studie, wie auf Betreuungsfälle von Kindern, die in ihren Familien nicht mehr weiter betreut werden können, besser reagiert werden könne.