Hamburg. Jugendamts-Mitarbeiter sehen sich als Rückgrat der Stadt, können sich ein Leben hier aber kaum leisten. Wie desaströs die Lage ist.
Tanja und Volkhard gehen am Donnerstag mit schlechtem Gewissen streiken. Das ist nichts Neues für sie, sagen die Fallmanagerin und der Sozialpädagoge. Das schlechte Gewissen, das hätten sie schon zu ihrem Arbeitsvertrag dazubekommen.
Die beiden Kinderschützer arbeiten seit acht Jahren beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) Hamburgs, der als Teil des Jugendamts regional in allen sieben Stadtteilen vertreten ist. Dort betreuen sie, im besten Fall eng und längerfristig, Familien in Belastungs-, Krisen- und Notlagen. Mittlerweile sind sie desillusioniert, überarbeitet und werden ihren eigenen Ansprüchen an die Arbeit nicht gerecht. „Dieser Job saugt uns aus“, sagt Tanja. „Es ist die blanke Verzweiflung, die uns auf die Straße bringt.“
Streik Hamburg: „Blanke Verzweiflung“ bringt Kinderschützer auf die Straße
Sozialpädagoge Volkhard begreift sich als „Verwalter des Mangels“, sagt er. Dabei sei er doch einmal angetreten, um am Menschen zu arbeiten, um Kinder aus psychischer und physischer Gewalt zu befreien, ihnen eine Kindheit in Würde zu ermöglichen. Er sei heillos überlastet beim ASD, wo er deutlich mehr Familien betreut als eigentlich vorgesehen und dadurch keine so, wie er es gern möchte und könnte. Der Hauptgrund dafür sind fehlende Kollegen. Allein im vergangenen Jahr seien neun Mitarbeiter gegangen, offen bleibende Stellen längst die Regel.
Reihenweise Kinderschützer „brechen weg, ins Burn-out“, erzählt Kollegin Tanja, oder arbeiten lieber in Niedersachsen beziehungsweise Schleswig-Holstein. Dort schließlich werden sie nach den Tarifverträgen für den öffentlichen Diensts (TvöD) bezahlt und nicht nach den geringer entlohnten Stadtstaatentarifen (Tarifvertrag der Länder, TVL) wie in Hamburg.
Mit drei Jahren Arbeitserfahrung können Sozialarbeiter in den Flächenländern beispielsweise mit 400 bis 700 Euro brutto mehr im Monat rechnen, sagt Volkhard. Wer seit zehn Jahren Fallmanager ist, bekomme in Niedersachsen und Schleswig-Holstein von März 2024 an rund 800 Euro brutto mehr im Monat als die Hamburger Kinderschützer.
Streik in Hamburg: Um das Geld allein ginge es gar nicht, so die Kinderschützer
„Hier ist niemand angetreten, um reich zu werden“, sagt Tanja. Allein um das Geld gehe es auch gar nicht. Doch die mangelnde finanzielle Attraktivität der vielen offenen Stellen in Hamburg verschärfe die Situation enorm. Es ist ein Teufelskreis, ein sich selbst verstärkender Effekt: Je weniger Schultern die Arbeit stemmen müssen, desto eher kündigen Kollegen oder fallen psychisch erkrankt aus, desto weniger Menschen müssen die Arbeit dann wiederum schultern und immer so weiter und immer so fort.
Außerdem sind die Lebenshaltungskosten in Hamburg in der Regel höher als beispielsweise in Niedersachsen. „Wir sind das Rückgrat dieser Stadt“, sagt Tanja. Überstunde für Überstunde arbeite sie explizit für Hamburg – da sollte sie sich ein Leben in der Stadt doch auch leisten können, sagt sie.
Ver.di-Streik: Streikende fordern 300 Euro Stadtstaatenzulage
Im Ver.di-Streik fordern die Kinderschützer, Seite an Seite mit zahlreichen weiteren Beschäftigten aus allen Bereichen des öffentlichen Dienstes wie Juristen oder Feuerwehrleute, deshalb nicht nur eine Lohnerhöhung um 10,5 Prozent (aber mindestens 500 Euro mehr im Monat) mit einer Laufzeit von zwölf Monaten. Sie erwarten zudem, dass die Lohnlücke zu den Flächenländern mit einer Stadtstaatenzulage in Höhe von 300 Euro geschlossen wird.
Mit ihren aktuellen Streiks und Arbeitskämpfen heizen sie bereits für die dritte Tarifrunde öffentlicher Dienst der Länder am 7. und 8. Dezember ein. Besonders wütend macht die Kinderschützer, dass trotz der ersten beiden Tarifrunden noch nicht einmal ein Angebot von Arbeitgeberseite vorhanden ist. Zumal die vorgeschlagene Lohnerhöhungen für Hamburg noch die billigste Variante sein dürfte, sagt Tanja. Richtig teuer käme es der Stadt erst zu stehen, wenn sie den Kinderschutz weiter ausbluten ließe, „denn unser Reichtum ist unser Nachwuchs.“
Kinderschützer: Für Kindeswohl zu sorgen, ist mehr als nur ein Job
Trotz dieser wichtigen Aufgabe und obwohl Menschen wie Tanja und Volkhard für eine Vielzahl von Kindern Lebensweg-entscheidend sind, fühlen sie sich zuweilen unsichtbar. Sie vermissen die Wertschätzung und den Respekt der Stadt, und sei es nur ausgedrückt in einem verbesserten Tarifvertrag.
Tanja macht die „permanente Dauerbelastung“ stark zu schaffen, erzählt sie. Insbesondere weil das Wohl der Kinder nicht nur ihr Job, sondern auch eine Herzensangelegenheit sei. „Ich will mich nicht nur noch auf halb tote oder halb verhungerte Kinder konzentrieren müssen. Vieles andere fällt ja hintenüber“, klagt sie. „Das sind Situationen, die kann man nach Dienstschluss nicht ausschalten.“ Und weinende Kollegen seien in ihrem Büro keine Seltenheit mehr.
„Wir verwalten uns zu Tode“ – massiver Bürokratieabbau gefordert
Wegen der vielen unbesetzten Stellen und Ausfälle ist es an der Tagesordnung, dass Volkhard und Tanja Familien aus dem Bestand ihrer Kollegen betreuen – Familien mit denkbar schwierigen Problemlagen und oft nur rudimentärer Aktenlage, denn für die viele Schreibarbeit fehlt die Zeit ebenfalls. „Wir verwalten uns zu Tode“, findet Tanja. Sie fordert einen massiven Bürokratieabbau beim ASD: „Manchmal fülle ich 25 Formulare aus, statt mich einmal mit der Familie an den Tisch zu setzen.“ Kollege Volkhard berichtet, sogar schon darauf hingewiesen worden zu sein, dass er zu viele Vor-Ort-Termine mit den Familien mache.
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Das ganze System krankt: Mitarbeitermangel im Hamburger Kinderschutz
Und nicht allein der ASD ist betroffen. Der Kinderschutz in Hamburg setzt sich aus einer Vielzahl von Institutionen zusammen, die auf engen Austausch angewiesen sind. So geben die Mitarbeiter des ASD besonders gefährdete Kinder in Krisensituationen beispielsweise in die Obhut der Kinderschutzhäuser, die wiederum zum Landesbetrieb für Erziehung und Beratung (LEB) gehören. Der LEB ist der kommunale Jugendhilfeträger der Stadt Hamburg.
Eine Mitarbeiterin eines LEB-Kinderschutzhauses, die anonym bleiben möchte, berichtet von nicht minder erschreckenden Zuständen. „Um ehrlich zu sein, können wir die notwendige pädagogische Hilfe nicht mehr leisten“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Die Plätze (im Kinderschutzhaus, die Red.) sind einfach nicht da.“ Auch hier würde triagiert. Dabei sei der Anspruch der Mitarbeiter weit größer, als die Kinder lediglich „unfallfrei, satt und sauber“ zu halten, sagt sie. Zeit für notwendige Runde Tische und Austausch zwischen den Kinderschützern fehle ebenfalls.
Desaströse Zustände: Hilfeschrei aus dem Hamburger Kinderschutz
Zumal sie alle, egal ob ASD oder LEB, derzeit unter erschwerten Umständen arbeiten. Die sowieso schon bestehende Problemlage habe sich seit der Lockdowns während der Corona-Pandemie noch potenziert. Auch die Zuwanderung, etwa wegen des Kriegsgeschehens in der Ukraine, ist ein Treiber. Jede Fluchtbewegung komme massiv bei den Kinderschützern an.
Nun heißt es bangen, warten, kämpfen, hoffen – für die Kinderschützer, aber auch die Kinder Hamburgs. Selbst jene der ASD- und LEB-Mitarbeitenden. Fallmanagerin Tanja jedenfalls würde sich freuen, wenn ihre Tochter wegen der vielen Überstunden bald nicht mehr fragen müsste: „Mama, wann wechselst du endlich die Arbeit?“