Hamburg. Eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft ist eine Alternative zum Heim oder der Pflege durch Angehörige. Wie das Konzept funktioniert.
- Eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft ist eine Alternative zum stationären Heim oder der Pflege durch Angehörige
- 55 solcher WGs gibt es in Hamburg, die meisten davon Angehörigen-geführt
- Einer der größten Pluspunkte für Pflegebedürftige: Sie können hier bis zum Ende möglichst selbstbestimmt leben
Als Anita S. immer stärker erkrankt, immer häufiger vergisst und immer mehr an Selbstständigkeit einbüßt, muss Petra S. sich fragen: Wohin mit der eigenen, an Demenz erkrankten Mutter? Anita S. lebt damals noch in Süddeutschland, Tochter Petra schon seit vielen Jahren in Hamburg. Schnell steht fest, sie muss ihre Mutter zu sich holen.
„Meine Mutter ist immer dementer geworden und zu Hause konnte sie irgendwann nicht mehr umfassend versorgt werden“, erinnert sich Petra S. Das war vor sieben Jahren. „Ich konnte mir auch nicht vorstellen, sie in ein Heim zu bringen“, sagt sie. „Vor allem, nachdem ich mir ein paar Pflegeheime angesehen hatte. Das wollte ich für meine Mutter einfach nicht.“
Die Rettung für Petra S.: eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft an der Hospitalstraße im Herzen von Altona. Dort wohnt ihre heute 86 Jahre alte Mutter nicht nur, sondern lebt auch – und zwar mit neun anderen älteren Menschen und Golden Retriever Barney in einer Demenz-WG. Und so sagt S., die als Angehörigensprecherin der WG auftritt: „Meiner Meinung nach ist das das Konzept der Zukunft.“
Zu Besuch in der Demenz-WG: Sieht so die Pflege der Zukunft aus?
„Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter in guten Händen ist, dass sie fürsorglich und liebevoll betreut wird“, schwärmt Petra S., deren Mutter seit nunmehr sieben Jahren an der Hospitalstraße zu Hause ist. „Hier geht es um mehr als ,sauber, trocken und satt‘. Und ich kann mich um das wirklich Wesentliche kümmern und einfach nah bei ihr sein.“
Für eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft tun sich Angehörige zusammen und mieten gemeinsam ein größeres, barrierefreies Objekt an. Dort können mehrere Personen mit Betreuungsbedarf gemeinsam untergebracht werden. In der Regel hat jeder von ihnen ein eigenes Zimmer und Bad, außerdem gibt es Gemeinschaftsräume. Ein Pflegedienst kümmert sich Tag und Nacht um die Menschen, meist gibt es auch Reinigungskräfte, Gärtner oder etwa Friseure, die regelmäßig vorbeikommen.
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Anita S. und ihre WG-Mitbewohner leben auf 377 Quadratmetern. Ein kleiner Innenhof wurde in ein herrliches grünes Idyll verwandelt. Die Mietkosten in der Hospitalstraße sind sehr gering, sagt Angehörigensprecherin Petra S., weil es sich um einen geförderten Bau handelt. In der direkten Nachbarschaft befinden sich unter anderem eine Rollstuhl- und eine Alters-WG für Frauen.
In Hamburg gibt es 55 Wohn-Pflege-Gemeinschaften
In Hamburg gibt es derzeit 55 Wohn-Pflege-Gemeinschaften, manche schon seit mehr als 20 Jahren. Der überwiegende Teil, 42 von ihnen, ist selbst organisiert. Die übrigen sind trägergestützte Wohn-Pflege-Gemeinschaften, informiert die Sozialbehörde. Die rechtlichen Leitlinien für das Pflege-Konzept sind im Hamburgischen Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz verankert.
Oftmals richten sich die Wohngemeinschaften speziell an Menschen mit Demenz. Inzwischen gibt es in Hamburg aber auch Wohn-Pflege-Gemeinschaften für weitere Zielgruppen, beispielsweise für Menschen nach einem Schlaganfall, für Menschen, die jung an Demenz erkrankt sind oder solche mit Pflegebedarf aufgrund chronischer oder psychischer Erkrankungen.
Pflegepersonal und WG-Bewohner oftmals sehr eingespielt
Die Vorteile liegen auf der Hand: Einerseits wohnen die Erkrankten hier in Strukturen, die einer „normalen Mietwohnung“ weitgehend ähneln und andererseits genießen die Menschen eine sehr enge und individuelle pflegerische Betreuung durch ein immer gleichbleibendes Team. Ungefähr ein Dutzend Pflegekräfte kümmert sich im Schichtdienst um die WG-Bewohner an der Hospitalstraße. Viele von ihnen arbeiten schon seit Jahren hier und kennen die Dementen und ihr Leiden in- und auswendig, sagt Petra S.
„Das Pflegepersonal kennt die Bewohner sehr gut und weiß deshalb genau, was wann zu tun ist – wer getröstet werden muss oder wer Ablenkung braucht“, sagt Petra S. über die Demenz-WG in Altona. „Es bleibt auch genug Raum für Dinge wie gemeinsames Kochen oder die Biografiearbeit, was ja im Pflegeheim auch passieren sollte, aber dort gibt es oft nicht die Zeit.“ Auch die Angehörigen, die die WG verwalten, profitieren voneinander – von ihren geteilten Erfahrungen, offenen Ohren und gegenseitigem Rückhalt in dieser „Schicksalsgemeinschaft“.
„Ich glaube, allein und zu Hause kann man eine demente Person kaum pflegen“
Die Pflege einer dementen Person zu Hause, als einzelner Angehöriger, sei kaum zu stemmen, sagt Petra S.: „Demenz, das ist eine Krankheit, die enorme persönliche Veränderungen mit sich bringt. Die Eigenständigkeit der Person geht nach und nach verloren – das ist eine große Herausforderung für pflegende Angehörige“, so die Tochter. „Ich glaube, allein und zu Hause kann man eine demente Person kaum pflegen, ohne dabei Gefahr zu laufen, selbst krank zu werden.“
In einer Wohn-Pflege-Gemeinschaft verteilen sich die Kosten für die professionelle Pflege im 24-Stunden-Dienst, aber auch für Miete, Versorgung, Einrichtung und Co. auf viele Schultern. Nichtsdestotrotz: Günstiger ist in der Regel eine Unterbringung in einem herkömmlichen Pflegeheim. Grund dafür ist auch, dass die Eigenanteile an den Unterbringungskosten im Falle von Wohn-Pflege-Gemeinschaften deutlich höher liegen.
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Sozialbehörde Hamburg begrüßt Wohn-Pflege-Gemeinschaften
Fürsprecher der Idee fordern deshalb bessere Fördermöglichkeiten für Wohn-Pflege-Gemeisnchaften. Und dazu zählt im Übrigen auch die Sozialbehörde: „Hamburg setzt sich auf Bundesebene dafür ein, dass die Pflegeversicherung künftig auch Wohn-Pflege-Gemeinschaften angemessen berücksichtigt“, teilt Behördensprecher Wolfgang Arnhold mit. Schließlich hätte sich das Konzept als „wichtiger und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des pflegerischen Versorgungsangebotes in Hamburg“ etabliert.
Die größten Pluspunkte in den Augen der Sozialbehörde: dass die WG-Bewohner bis zum Ende möglichst selbstbestimmt leben können und dass diese Form der Unterbringung durch ihre Kleinräumigkeit stärker als stationäre Pflegeheime ins Quartier eingebettet sind.
Künftig dürften die Wohn-Pflege-Gemeinschaften als Ergänzung zu stationären Pflegeheimen und der privaten Pflege durch Angehörige noch an Relevanz gewinnen. „In Anbetracht des demografischen Wandels benötigen wir alternative Versorgungsansätze, in denen auch gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung eine wichtige Rolle spielt“, so Arnhold.
Demenz-WG Hamburg: Hier wohnen die Menschen „bis zum Schluss“
In der Demenz-WG in Altona wohnen die Menschen „bis zum Schluss“, sagt Petra S. Eine der Mitbewohnerinnen ist schon seit der Gründung der Wohn-Pflege-Gemeinschaft vor zwölf Jahren WG-Mitglied. Bevor jemand neues nachrückt, gebe es jeweils ein „Probewohnen“. Aktuell sei es allerdings schwierig, einen Platz in der Demenz-WG Hospitalstraße zu ergattern: Warteliste.
Wie die jeweilige Demenz-WG organisiert ist, welcher Pflegedienst bestellt und welche Leistungen angeboten werden, entscheiden die Angehörigen gemeinsam in einer Art Gremium. Im Fall der Demenz-WG an der Hospitalstraße treffen sie sich einmal monatlich und stimmen demokratisch über eine zuvor festgelegte Agenda ab.
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Außerdem hat hier jeder seine Rolle, erzählt Petra S.: Finanzchef, „Facility-Manager“, oder eben Angehörigensprecherin. Einige Demenz-Wohngemeinschaften würden sich als Verein organisieren, sagt sie. Die Hospitalstraße hat sich für die Organisationsform der GbR entschieden.
Wohn-Pflege-Gemeinschaften: Hamburg ist Vorreiter
Und wenn sie einmal nicht weiter wissen, dann gibt es Menschen, an die sich die Angehörigen wenden können: Bei der Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften laufen alle Fäden zusammen. Die Stelle, die bei der Stattbau Hamburg Gemeinwohl gGmbH angesiedelt ist und von der Sozialbehörde gefördert wird, gibt es schon seit 2006. Damals war sie die erste ihrer Art, entstanden an einem runden Tisch.
Die Koordinationsstelle ist unter anderem beratend tätig, erzählt Gerontologin, also „Altersexpertin“, Maike Mahlstedt. Wer Teil einer Wohn-Pflege-Gemeinschaft ist, eine neue gründen oder in eine bestehende einsteigen möchte, kann sich hier umfassend informieren. Über eine „Wohn-Pflege-Börse“ finden Angehörige freie Plätze in Wohn-Pflege-Gemeinschaften.
Prinzipiell können alle Menschen mit Pflegebedarf in solchen Wohngemeinschaften leben, sagt Mahlstedt. Für demente Personen sei das Konzept aber besonders interessant, da sie gerade zu Beginn der Erkrankung deutlich mehr Ansprache als klassische Pflege benötigen würden, was ein stationäres Heim oft kaum leisten könne.