Hamburg. In der preisgekrönten Wohngemeinschaft leben neun Patienten, doch die Nachfrage ist höher. Jetzt plant der Verein neue Standorte.
Das Leben änderte sich für Tina Masuch im Schlaf. Als sportlich-aktive Hobby-Kitesurferin ist sie ins Bett gegangen, als Schwerbehinderte wachte sie auf. Denn: Während der Nacht erlitt sie einen Schlaganfall. Mit ihren 59 Jahren fühlt sie sich zu jung, um in einem Seniorenheim gepflegt zu werden. In Hamburg-St. Georg hat sie in einer ganz besonderen Wohngemeinschaft ein Zuhause gefunden.
Ihr neues Leben mit Schlaganfall begann im Mai vergangenen Jahres: Tina Masuch war mit ihrem damaligen Freund im Ägypten-Urlaub zum Kiten. Als sie nachts auf Toilette musste, konnte sie nicht aufstehen. Es ging einfach nicht. „Ich habe es zwei- bis dreimal probiert, aber es klappte nicht.“
Schlaganfall-WG in St. Georg: Hamburger Einrichtung gibt Patienten ein Zuhause
Sie legte sich wieder hin und probierte, ihren rechten Finger zur Nase zu bewegen, das klappte. Rechtes Bein anheben, das klappte auch. Linker Finger zur Nase funktionierte nicht, linkes Bein anheben ebenso wenig. Sprechen ging, das geht bis heute. „Ich fragte meinen Freund, ob er den Notarzt rufen könne, weil ich einen Schlaganfall hatte.“
Tina Masuch erzählt das völlig unaufgeregt, so als sei das ganz normal, nachts mit einem Schlaganfall aufzuwachen. Keine Viertelstunde später war der Arzt da. Es folgten eine Woche Intensivstation und zwei Wochen Normalstation in Ägypten, Liegendtransport zurück nach Deutschland und weitere zwei Wochen im Universitätsklinikum Schleswig-Holsten in Lübeck und anschließend Reha zu Hause in Bad Segeberg.
Schlaganfall mit Ende 50: „Haus für Morgen“ in Hamburg brint neue Hoffnung
Ein neues, völlig anderes Leben begann für die Mutter von erwachsenen Zwillingen. Dabei ging es ihr wunderbar bis zu dem Tag im Mai 2022, als sich Ablagerungen in ihrer Halsschlagader, sogenannte Plaques, gelöst und den Schlaganfall verursacht hatten. Tina Masuch war bis dahin scheinbar gesund, arbeitete als Verwaltungsfachangestellte, verdiente gutes Geld und fuhr zum Kitesurfen gern nach Fehmarn und an die mecklenburgische Ostseeküste.
Plötzlich war sie ein Pflegefall, konnte nicht mehr laufen. Ihr Sprachzentrum ist von dem Schlaganfall nicht beeinträchtigt, ihre linke Körperhälfte dagegen sehr. Sie sitzt in einem Rollstuhl. „Es kann wirklich jeden treffen. Ich habe Sport getrieben, habe mich vernünftig ernährt, mäßig Alkohol getrunken – und dennoch.“ Mit dem Schicksal scheint sie nicht zu hadern, sie nimmt es an.
Doch wie geht das Leben weiter, wenn man in relativ jungen Jahren zum Pflegefall wird? Für Tina Masuch stand fest, dass sie auf keinen Fall in einem Seniorenheim wohnen möchte, zwischen alten Menschen. Bei ihrer Mutter in Bad Segeberg wollte und konnte sie nach dem Schlaganfall auch nicht länger wohnen, nachdem sie ihre eigene Wohnung gekündigt hatte. Allein leben ging ja nicht mehr, und ihr Freund hatte Schluss gemacht. „Er wollte nicht mit einer kranken Frau zusammen sein“, sagt Tina Masuch.
Hamburger WG: „Haus für morgen“ ist die erste Wohngemeinschaft für Schlaganfallpatienten
Im „Haus für morgen“, Hamburgs erster Wohn-Pflege-Gemeinschaft für jüngere Schlaganfall-Betroffene in St. Georg, fand sie ihr neues Zuhause, gemeinsam mit acht weiteren Bewohnern. Als jüngerer Schlaganfallpatient gilt man bis 55. Tina Masuch wurde dennoch aufgenommen, auch wenn sie ein wenig älter ist.
In der WG läuft vieles anders, besser vielleicht als in klassischen Einrichtungen. Es gibt mehr Alltagshilfen und weniger medizinisches Personal, auch um die Kosten möglichst im Rahmen zu halten. Angehörige sollen mithelfen, mit den Bewohnern regelmäßig Ausflüge machen. Im „Haus für morgen“ leben Menschen zusammen, die ein ähnliches Schicksal teilen, die alle vor derselben Herausforderung stehen: in ihrem Leben einen neuen Sinn zu finden.
Die Therapien sind gebündelt und werden effizient genutzt. Statt alle Patienten zu verschiedenen Therapeuten fahren zu müssen, kommen die Therapeuten und Therapeutinnen zu ihnen. Arbeitet Ergotherapeutin-Auszubildende Alesja Klein beispielsweise in der Wohngemeinschaft, können alle Mitbewohner mitmachen. Manchmal eher nebenbei.
„Wenn ich koche und Hilfe beim Möhrenschnippeln brauche, beziehe ich einfach alle mit ein und integriere jeden.“ Diese Wohngemeinschaft sei schon sehr besonders, sagt Alesja Klein. „Weil die Menschen hier die Möglichkeit haben, selbstbestimmt in einer WG zu leben, steigert das die Lebensqualität.“
St. Georg in Hamburg: Die jüngste WG-Bewohnerin der Einrichtung ist 47 Jahre alt
Die Bewohner können sich gegenseitig unterstützen. Und so übersetzt Tina – hier wird sich geduzt – beispielsweise das, was Mitbewohnerin Jeanette versucht mitzuteilen. Die beiden kennen sich gut, mögen sich. Jeanette ist mit ihren 47 Jahren die jüngste WG-Bewohnerin, und anders als bei Tina ist vor allem ihr Sprachzentrum vom Schlaganfall betroffen.
Diese kleine Privatinitiative wurde von einer Handvoll Pflegelaien gegründet. Hauptinitiatorin ist Barbara Wentzel. Ihr Mann Henrik war nach einem Schlaganfall vor zehn Jahren auf Betreuung angewiesen. Von einem Tag auf den anderen war der Vater von drei Kindern völlig hilflos.
Die Familie stand vor folgenden Möglichkeiten: Papa mit 55 ins Altenheim geben – denn es gab keine Einrichtungen für junge Pflegefälle –, eine teure osteuropäische Pflegekraft einstellen oder Barbara Wentzel gibt ihren Job auf, um ihren Mann zu pflegen. Aber wovon sollte die Familie dann leben?
Ein Zuhause in St. Georg ohne Krankenhausatmosphäre – von Laien gegründet
Die berufstätige Frau und ihre drei Kinder stießen mit der Pflege zu Hause schnell an ihre Grenzen. Ihren Mann in einer Senioren-Pflegeeinrichtung unterzubringen, war für Barbara Wentzel allerdings keine Lösung. Sie wollte für ihn ein Zuhause ohne Krankenhausatmosphäre, in dem er „in seinen noch vorhandenen Fähigkeiten gefördert werden kann, und nicht nur das Gefühl hat, anderen zur Last zu fallen“, so Wentzel.
Weil es kein Angebot in Hamburg gab, gründete Barbara Wentzel mit Freunden ehrenamtlich das „Haus für morgen e. V.“. In Kooperation mit der Heerlein- und Zindler-Stiftung und der Hartwig-Hesse-Stiftung fand der Verein eine passende Wohnung in St. Georg in einem idyllischen Hinterhof an der Koppel. Ein kleines ambulantes Pflegeteam kümmert sich um die Versorgung der Bewohner. Auch Henrik Wentzel lebt dort immer noch.
Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer mit Bad und Toilette, und es gibt einen großen Gemeinschaftsraum. Es kann zusammen gekocht, gespielt werden. Alle waren auch schon einmal für einen Tagesausflug an der Schlei, manchmal geht es zusammen hinunter an die Alster. Jeder kann sich aber auch zurückziehen, es sind schließlich alles erwachsene Leute. Und: Niemand von ihnen hat sich dieses Leben aussuchen können.
Schlaganfall-WG in St. Georg: Knatsch gibt es auch in dieser besonderen Wohnung
„Einmal am Tag muss ich mindestens raus an die frische Luft“, sagt Tina Masuch. Wie bei einer normalen WG ist auch in dieser besonderen Wohngemeinschaft nicht immer alles rosig. Das ganze normale Leben eben. Über Spenden finanziert der Verein eine Mediatorin, die bei Bedarf mit den Bewohnern spricht und vermittelt.
Schließlich gibt es in der besten Wohngemeinschaft auch einmal Knatsch oder Dinge, die nicht so rund laufen. Bei Tina Masuch sind es die rauchenden Mitbewohner, die ihr mit der Qualmerei auf die Nerven gehen. Direkte Ansprachen haben nichts gebracht. Denn bei Schlaganfällen kann sich auch die Persönlichkeit von Betroffenen verändern. „Eine vernünftige Ansprache nützt da nichts“, sagt sie.
Schlaganfall-WG St. Georg: „Haus für morgen“ will weitere Wohnungen in Hamburg eröffnen
Die Nachfrage nach einem WG-Platz im „Haus für morgen“ ist viel größer als das Angebot und wird vermutlich weiter steigen. Denn: „Die Zahl an Schlaganfällen steigt“, sagt Miriam Collée vom Verein „Haus für morgen“. Im Jahr gibt es bundesweit 270.000 Schlaganfälle, davon bleiben 25 Prozent langfristig pflegebedürftig. 15 Prozent von den 270.000 Schlaganfallpatienten sind unter 55 Jahre. „Studien zufolge wird die Zahl der Schlaganfälle bis 2040 um 30 Prozent steigen“, so Miriam Collée.
Für seine besondere Arbeit hat der Verein bereits zweimal den Motivationspreis der Deutschen Schlaganfallhilfe bekommen. Das macht Mut und bestärkt alle, weiterzumachen und vor allem noch viel mehr zu schaffen. Daher möchte das „Haus für morgen“ wachsen und bis zum Jahr 2027 sieben weitere solcher WGs in Hamburg eröffnen, auch bundesweit sollen ähnliche Häuser entstehen.
In Hamburg hat der Verein bereits eine Fläche in Aussicht, es fehlen nur noch die notwendigen Fördergelder. Dazu haben die Verantwortlichen gerade einen Förderantrag beim Senat und beim Bund gestellt. Bislang finanziert sich der Verein durch Spenden und durch die Zahlungen der Bewohner – 2500 bis 4500 Euro im Monat kostet ein WG-Platz je nach Pflegegrad. Tina Masuch hat unter anderem ihr Auto verkauft, um den Aufenthalt zu finanzieren.
Schlaganfall-WG in St. Georg in Hamburg will Patienten zurück ins Leben helfen
„Niemand wäre freiwillig hier, aber es ist die beste Möglichkeit für alle überhaupt, ein Leben weiterzuführen, behütet, aber mit dem Ziel, wieder zurück in ein autonomes Leben zu kommen“, sagt Miriam Collée. In den vergangenen drei Jahren gab es bislang elf Bewohner, zwei von ihnen haben es aus der Wohngemeinschaft in ein selbstständiges Leben geschafft.
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Ein Weg, den Tina Masuch noch vor sich hat. Schritt für Schritt geht es langsam voran, im wahrsten Sinne des Wortes. Erst kürzlich hat sie die ersten 100 Meter mit Hilfe auf ihren Beinen geschafft. „Als Mutter von Zwillingen musste ich immer geduldig sein, ich kann das“, sagt sie. Sie hat Durchhaltevermögen und vielleicht genauso wichtig: „Ich bin von Grund auf ein optimistischer Mensch.“
Schlaganfall-WG in St. Georg soll für Tina Masuch nicht für immer sein
Die Prognosen der Ärzte sehen gut aus. Das hilft ihr dabei, dafür zu kämpfen, irgendwann wieder laufen zu können, auf beiden Beinen zu stehen. Auch mit ihrem Rollstuhl ist sie beweglich, fährt mehrmals die Woche mit dem Moia zur Physiotherapie nach Bahrenfeld, sie ist viel im Stadtteil unterwegs, setzt sich gern in Cafés und liest Bücher, am liebsten Krimis und Thriller.
Sie war auch schon wieder kiten. In Pelzerhaken an der Lübecker Bucht gibt es die Möglichkeit dazu auch für Rollstuhlfahrer. „Es fühlte sich großartig an, das Gefühl war das Gleiche wie sonst auch“, sagt Tina Masuch. „Der Wind, das Wasser, die Wellen.“ Die Zeit auf dem Wasser entschleunigt, „da fange ich an zu summen, tanke Kraft“. Und hoffentlich kann sie das irgendwann auch wieder auf beiden Beinen, ohne Rollstuhl.
Miriam Collée und Barbara Wentzel haben ein Buch über die Erfahrungen mit dem Schlaganfall von Wentzels Mann Henrik geschrieben: „Käsekuchen und Sauerkraut. Mein Mann, sein Schlaganfall und der ganze Irrsinn danach“, erschienen im Piper Verlag.