Hamburg. Airbus, Elbvertiefung, HafenCity: Der Sozialdemokrat schmiedete das erste rot-grüne Bündnis in Hamburg. Am Montag wird er 80 Jahre alt.

Anruf bei Ortwin Runde in Meiendorf. Kein norddeutsch gefärbtes „Tach auch“, das einst sein Markenzeichen war, sondern ein schlichtes „Hallo“ zur Begrüßung. Runde mag nach einem Schlaganfall 2015 zwar in seiner Mobilität eingeschränkt sein, aber er ist der „Homo politicus“ geblieben, als den er sich schon früher oft bezeichnet hat, das wird in dem rund einstündigen Gespräch, das sich anschließt, schnell klar. Und die Gesundheit? „Mir geht es recht gut. Aber das Ganze kann man nur mit Humor überstehen“, sagt Hamburgs früherer Erster Bürgermeister in der für ihn typischen lakonischen Art. Am kommenden Montag feiert der Sozialdemokrat seinen 80. Geburtstag.

Ortwin Runde zählt zu den regierungserfahrensten Politikern seiner Partei: Von 1988 bis 1993 war er zunächst Arbeits- und Sozialsenator, wechselte anschließend an die Spitze der Finanzbehörde, ehe er von 1997 bis 2001 Erster Bürgermeister war und die erste rot-grüne Koalition im Rathaus anführte. Von 2002 bis 2009 war er im Wahlkreis Wandsbek direkt gewählter Bundestagsabgeordneter. Nicht zuletzt war der Soziologe und Volkswirt aber der prägende Politiker des in den 1980er- und 1990er-Jahren starken linken Parteiflügels der Hamburger SPD, deren Vorsitzender er viele Jahre lang war. Für nicht wenige „Parteifreunde“ des Mitte-Rechts-Lagers war Runde jedenfalls in seinen Anfangsjahren buchstäblich ein rotes Tuch.

Ex-Bürgermeister Ortwin Runde sieht Bundeskanzler Olaf Scholz in einer schwierigen Lage

Natürlich leidet der Erste Bürgermeister a. D. am derzeitigen Zustand der SPD – auf Bundesebene. „In der gegenwärtigen Phase und in dieser Konstellation ist es nicht erfreulich für die Partei. Die SPD übertreibt es fast mit der Disziplin“, sagt Runde im Gespräch. Das Verhalten von Grünen und FDP in der Ampel-Koalition sei erbärmlich. Aber Runde hat Verständnis für Bundeskanzler Olaf Scholz, der in einer sehr schwierigen Lage sei. „Wenn er jetzt anfinge, in der Ampel-Koalition zu disziplinieren, dann stünden Robert Habeck und Christian Lindner sofort auf der Matte und würden ihren Ringkampf machen“, sagt er und fügt hinzu: „Als Regierungschef ist man da immer etwas hilflos. Wenn Scholz einen Minister rauswerfen würde, wäre die Regierung sofort am Ende.“

Ortwin Runde und Olaf Scholz: Die beiden haben ja durchaus eine gemeinsame Geschichte. Es war der Bürgermeister Runde, der den aufstrebenden Nachwuchspolitiker Olaf Scholz ein halbes Jahr vor der Bürgerschaftswahl 2001 zum Innensenator machte. Scholz sollte den harten SPD-Sheriff geben, um dem Rechtspopulisten Ronald Schill („Richter Gnadenlos“) doch noch Einhalt zu gebieten. Scholz war der gewünschte „Law-and-Order-Mann“, gereicht hat es trotzdem nicht. Rot-Grün wurde abgewählt und Schill Scholz‘ Nachfolger als Innensenator.

Der Pfeifenraucher, Schach- und Skatspieler Runde ließ sich kaum aus der Ruhe bringen

Eine enge politische Freundschaft scheint zwischen Runde und Scholz aus der Zeit nicht geblieben zu sein. „Seine Art, Politik zu machen, ist eine andere. Menschen haben unterschiedliche Politikentwürfe und Vorstellungen“, sagt der Altbürgermeister etwas unbestimmt. Näher begründen möchte er das nicht.

Als einen „alten Freund“ bezeichnet Runde dagegen Rolf Mützenich, den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. Die beiden kennen sich aus der gemeinsamen Zeit als Abgeordnete Anfang der 2000er-Jahre. „Er ist sehr ruhig, sehr gelassen und hält die Leute zusammen. Es gibt eine große Diszipliniertheit in der SPD“, charakterisiert Runde Mützenich, aber ein bisschen auch sich selbst in seiner Zeit als aktiver Politiker. Der Pfeifenraucher, Schach- und Skatspieler ließ sich kaum aus der Ruhe bringen. Als ausgewiesener Linker galt Runde auch den Parteirechten in der Hamburger SPD als verlässlich trotz aller inhaltlichen Differenzen. Das war eine zentrale Voraussetzung für seinen Aufstieg zum Bürgermeister.

Der Wechsel Rundes in das Amt des Ersten Bürgermeisters erwies sich als kluger Schachzug

Rückblende: Bevor Runde erstmals auf dem leicht erhöhten Chefsessel in der Ratsstube des Rathauses Platz nahm, war die machtgewohnte SPD in einer ausgesprochen heiklen Lage. Der 21. September 1997, der Tag der Bürgerschaftswahl, bedeutete einen Paukenschlag für die SPD und die Stadt: Der Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) erklärte aus Enttäuschung über das aus seiner Sicht zu schwache Abschneiden der SPD – 36,2 Prozent (heute wäre das ein ordentliches Ergebnis) – noch am Wahlabend seinen Rücktritt. Zwar hatte Voscherau im Wahlkampf immer wieder mit seiner „Schmerzgrenze“ bezüglich des Wahlergebnisses kokettiert und mit seinem Rücktritt gedroht, es allerdings unterlassen, diese Grenze genau zu definieren.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass er zurücktritt. Jeder Mensch ist eine Wundertüte, aber Henning Voscherau war eine nicht ganz berechenbare Wundertüte“, sagt Runde heute. Die Lage war kurios: Die SPD hatte als stärkste Fraktion einen klaren Regierungsauftrag, aber plötzlich keinen Bürgermeister mehr. In dieser Situation bewies die Partei einmal mehr Machtinstinkt. Statt sich in Flügelkämpfen über den künftigen Kurs nach Voscheraus Abgang aufzureiben, wurde die Nachfolgefrage im Laufe nur eines Tages geregelt. Es war der langjährige Bausenator Eugen Wagner, Vorsitzender der SPD Hamburg-Mitte und Bollwerk des Mitte-Rechts-Lagers, der durchsetzte, dass nun erstmals ein Parteilinker Erster Bürgermeister werden müsse: Ortwin Runde.

Ortwin Runde schmiedete das erste rot-grüne Bündnis im Hamburger Rathaus

„Es war ziemlich schnell klar, dass es auf mich hinauslaufen würde. Dabei ging es auch um persönliche Merkmale. Man weiß, wie jemand einzuschätzen ist und wie verlässlich er ist“, sagt Runde im Gespräch. Und als verlässlich galt er immer: Runde gehörte bereits in den 1980er-Jahren als Parteichef zum berüchtigten „Eisernen Dreieck“ der SPD mit Klaus von Dohnanyi als Erstem Bürgermeister und Henning Voscherau als SPD-Fraktionschef. Später war Runde zum Beispiel als Finanzsenator eng und vertraulich in die ersten Vorplanungen des Bürgermeisters Voscherau zur Entwicklung der HafenCity eingebunden.

Die Runde-Rochade erwies sich als geschickter Schachzug, auch weil es erneut eine klare Mehrheit für ein rot-grünes Bündnis gab. Die ersten Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und der Ökopartei waren 1993 gescheitert, nicht zuletzt am Widerstand Voscheraus. Zwischen SPD-Linken und den Grünen existierten auf manchen Politikfeldern durchaus Übereinstimmungen, sodass es für Runde beim Koalitionspartner in spe einen gewissen Vertrauensvorschuss gab. Aber dem bedächtigen, jedoch zähen Verhandler gelang, was Voscherau nicht für möglich gehalten hatte.

Runde war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil zu seinem Vorgänger Henning Voscherau

Runde rang den Grünen in den Koalitionsverhandlungen die Zusage zu den aus SPD-Sicht wichtigsten Infrastrukturprojekten ab: die (später erfolgreiche) Bewerbung um den Bau des Airbus A380 mit der Folge der Teilzuschüttung des Mühlenberger Lochs, der Bau des Containerterminals Altenwerder und die Elbvertiefung. Das waren die berühmten „Kröten“, die die Grünen für den erstmaligen Eintritt in den Senat schlucken mussten. Im Gegenzug setzte die Grün-Alternative Liste (GAL), wie die Partei damals hieß, mit Krista Sager als Spitzenkandidatin und späterer Zweiten Bürgermeisterin unter anderem erstmals ein Radverkehrs- und Fußverkehrskonzept für die Stadt durch.

Der im damals westpreußischen Elbing (heute polnischen Elblag) geborene und in Ostfriesland aufgewachsene Runde war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seines Vorgängers Voscherau. Der große Auftritt, gar die Inszenierung der eigenen Person, beides war Voscherau nicht fremd, lag dem zurückhaltenden Soziologen nicht. Seine unprätentiöse und vorsichtige Art der Kommunikation fand seinen treffenden Ausdruck in jenem jovialen „Tach auch“, mit dem er Bürgerinnen und Bürger gern begrüßte. Dabei ist Runde ein kluger und kenntnisreicher Analytiker und politischer Stratege.

In seine Amtszeit fallen wichtige Entscheidungen, die für die Stadt bis heute prägend sind

Es gelang ihm, die Flügelkämpfe in der SPD im Zaum und den damals noch dezidiert linker orientierten Koalitionspartner von den Grünen bei der Stange zu halten. „Ich habe in den vier Jahren als Erster Bürgermeister kein einziges Mal nach innen disziplinieren müssen“, sagt Runde rückblickend, der als Regierungschef seit der Verfassungsreform von 1996 mit der Richtlinienkompetenz ausgestattet war. Aufgrund seiner mangelnden Beherrschung des PR-Fachs in eigener Sache und seines zurückhaltenden öffentlichen Auftritts zählt Runde zu den eher unterschätzten Bürgermeistern.

Dabei fallen in seine Amtszeit wichtige Entscheidungen, die bis heute nachwirken und für die Stadt prägend sind. Runde war als Finanzexperte maßgeblich an einer Neuregelung des Länderfinanzausgleichs beteiligt. Es gelang ihm in mühseligen und langwierigen Verhandlungen mit den 15 anderen Länder-Ministerpräsidenten das für Hamburg so wichtige Stadtstaatenprivileg zu erhalten, das Hamburg, Bremen und Berlin finanziell besserstellt, weil sie wichtige Aufgaben für das Umland mit übernehmen. Anders als Bremen und Berlin war und ist das „reiche“ Hamburg fast immer Geberland im Länderfinanzausgleich gewesen. Ein Wegfall des Stadtstaatenprivilegs hätte für die Stadt schon damals bedeutet, rund eine halbe Milliarde Euro mehr an Steuergeldern in den Länderausgleich einzahlen zu müssen.

Airbus-Werkserweiterung auf Finkenwerder hat sich als Erfolgsgeschichte erwiesen

Auf seine politischen Erfolge angesprochen, nennt der Altbürgermeister als Erstes eben diese Neuregelung der Finanzverhältnisse zwischen den Ländern. „Was wir damals zu tun hatten, hatte eine ziemliche Bedeutung. Das war eine spannende Aufgabe“, sagt Runde heute in der für ihn typischen Nüchternheit. Immerhin: Rückblickend sieht er seine Rolle bei den Verhandlungen als bedeutender an, als es der Größe Hamburgs als kleinem Stadtstaat entsprochen hätte.

Als Erfolgsgeschichte hat sich längst auch die damals unter Umweltschützern umstrittene Airbus-Werkserweiterung auf Finkenwerder erwiesen. Weniger wegen des Riesenvogels A380, der eher eine Episode war, sondern vor allem wegen der vielfach georderten kleineren Modelle des Flugzeugbauers. Runde nennt sie die „Bread-and-butter“-Flugzeuge. Hamburg hat sich dadurch als drittgrößter ziviler Flugzeugbau-Standort der Welt nach Seattle und Toulouse etabliert.

Runde setzte gegen Widerstand aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen die Elbvertiefung durch

„Das war schon fantastisch. Gegen den französischen Nationalstaat bei der Entscheidung über den Standort nicht nur zu bestehen, sondern zu siegen, das hat viel Spaß gemacht“, sagt Runde mit gewissem Understatement und schickt sein trockenes Kichern hinterher. Und der Sozialdemokrat erinnert daran, dass die CDU auf Bundesebene eher Mecklenburg-Vorpommern als Airbus-Standort im Blick hatte.

Reichlich Widerstand gab es auch bei einer dritten Entscheidung, die sich Runde zugutehält: die Elbvertiefung. „Schleswig-Holstein und Niedersachsen waren lange dagegen. Mir war immer klar, dass die Vertiefung der Elbe schwierig werden würde, aber noch realisierbar, jedoch nicht beliebig wiederholbar“, sagt der Altbürgermeister. Langfristig hätte es im Anschluss an die Vertiefung der Fahrrinne aus seiner Sicht einer anderen Arbeitsteilung zwischen norddeutschen Häfen bedurft. Stichwort Tiefwasserhafen Wilhelmshaven. Olaf Scholz als Bürgermeister und die Hamburger SPD haben das mit der erneuten und insgesamt neunten Elbvertiefung von 2012 an bekanntlich anders entschieden.

Dass das erste rot-grüne Bündnis eine Episode blieb, lag vor allem an zwei Gründen

Dass das erste rot-grüne Bündnis letztlich nur eine Episode blieb, lag vor allem an zwei Gründen: die Diskussion über den „roten Filz“ und das Thema Kriminalitätsbelastung. Seit 1957 regierte die SPD ununterbrochen im Rathaus und stellte stets den Ersten Bürgermeister. Auf wichtigen Positionen in Behörden und an der Spitze öffentlicher Unternehmen sowie von Vereinen und Verbänden fanden sich Männer und Frauen mit SPD-Parteibuch. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre versuchte sogar ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA), Licht in die sozialdemokratischen Verflechtungen zu bringen.

Als besonders krasser Fall galt damals die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Es gab das Bonmot, dass der linke SPD-Kreisverband Hamburg-Nord seine Vorstandssitzungen in der Kantine der Behörde abhalten könne, weil dort ohnehin alle Mitglieder als Behörden-Mitarbeiter täglich zusammenkämen. Über Jahrzehnte stellte die SPD-Nord auch die Senatorinnen und Senatoren der Behörde – einer von ihnen war Ortwin Runde. Als Erster Bürgermeister bezeichnete er sich einmal als „Hamburgs oberste Filzlaus“ – das war seinem speziellen Humor geschuldet und als Scherz gemeint, aber nicht alle verstanden es so.

Runde: „Dass die Niederlage heute noch schmerzt, kann ich nicht sagen.“

Die zunehmende Drogenkriminalität und einzelne spektakuläre Kriminalfälle wie der Dabelstein-Mord führten zu einer Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls und setzten Rot-Grün unter Druck. Dann folgten kurz vor der Wahl die Terroranschläge des 11. September 2001, deren Täter zum Teil in der Harburger Marienstraße gewohnt hatten. Die rot-grüne Koalition verlor ihre Mehrheit und ein gewisser Ronald Schill errang mit seiner neu gegründeten rechtspopulistischen Partei 19,4 Prozent.

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„Niederlagen sind unerfreulich. Das war eine Entscheidung, die von unappetitlichen Leutchen wie Schill beeinflusst wurde“, sagt Runde. „Dass die Niederlage heute noch schmerzt, kann ich nicht sagen. Entscheidend ist doch, wie man verliert. Zieht man sich enttäuscht zurück oder nicht?“, sagt der Bürgermeister a. D. Runde gab nicht auf, machte weiter und wechselte in den Bundestag.

Ole von Beust lobt seinen Vorgänger Runde als „zuverlässigen und ernsthaften Mann“

Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass der Sozialdemokrat heute für seine politische Leistung Anerkennung über die Parteigrenzen hinaus erfährt. Etwa von Ole von Beust, seinem Nachfolger im Amt des Ersten Bürgermeisters. Der Christdemokrat war als Oppositionschef Gegenspieler des Bürgermeisters Runde in der Bürgerschaft und sein Herausforderer. „Ich habe Ortwin Runde in seinen Bürgermeister-Jahren als zuverlässigen und ernsthaften Mann kennengelernt. Die erfolgreiche Entwicklung von Airbus am Standort Hamburg wäre ohne seinen Einsatz nicht möglich gewesen. Seine Kompetenz als Haushaltsexperte und Kenner des Länderfinanzausgleichs ist bundesweit anerkannt“, sagt von Beust und fügt hinzu: „Mediale Inszenierungen lagen ihm fern. Das ist sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche gewesen.“

„Ortwin Runde hat sich als Abgeordneter, Senator und Bürgermeister für ein modernes und soziales Hamburg eingesetzt. Mit Weitsicht und kluger Analyse hat er die Weichen für die Zukunft der Hansestadt gestellt“, sagt Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) über seinen Vorgänger und nennt den Containerterminal Altenwerder, Airbus und den Masterplan HafenCity als Beispiele.

Seinen 80. Geburtstag am Montag will Runde mit „Freundinnen und Freunden“ feiern, „im Rahmen meiner Kräfte“, wie er hinzufügt. Herzlichen Glückwunsch!