Hamburg. 2001 ging die CDU ein Bündnis mit dem Rechtspopulisten Schill ein. Es endete im Desaster – wozu auch das Abendblatt beitrug.
Es sah an jenem denkwürdigen Vormittag fast so aus, als hätte sich Ronald Schill ein Hitlerbärtchen stehen lassen. Aber in Wahrheit trug der frisch gefeuerte Hamburger Innensenator nur einen wuchernden Herpes über der Oberlippe, als er am 19. August 2003 gegen 11 Uhr den Raum 151 des Hamburger Rathauses betrat – womöglich verstärkt durch Stress und Aufregung. Grund zur Aufregung gab es in jenen Tagen jedenfalls mehr als genug in der Hamburger Politik.
Ihren Höhepunkt hatte die mit dem Rechtspopulisten Schill im Herbst 2001 ins Rathaus eingezogene Dauererregung eine gute Stunde vor der eilig einberufenen Pressekonferenz erreicht: CDU-Bürgermeister Ole von Beust hatte Schill, der als Zweiter Bürgermeister auch sein Stellvertreter war, völlig überraschend aus dem Senat entlassen. Beusts Begründung: Der frühere Amtsrichter habe ihn bei einem Vier-Augen-Gespräch im Bürgermeisterbüro kurz zuvor erpressen wollen.
Eklat im Rathaus: Beust feuert Schill wegen eines angeblichen Erpressungsversuchs
Hintergrund: Beust wollte Schills wegen ungenehmigter Nebentätigkeiten in die Kritik geratenen Innenstaatsrat Walter Wellinghausen in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Um das zu verhindern, habe ihm Schill gedroht, „öffentlich publik zu machen, dass ich meinen angeblichen Lebenspartner, Justizsenator Dr. Kusch, zum Senator gemacht und damit Privates und Politisches verquickt habe“, so von Beusts Schilderung des Vorgangs. Der Innensenator habe gedroht, seine Behauptungen in der Hauptnachrichtenzeit öffentlich zu machen. Er habe Schill daraufhin seines Büros verwiesen und die Entlassungsurkunden für Schill und Wellinghausen ausfertigen lassen, so der Bürgermeister. Schills Behauptung sei falsch, die Drohung „ungeheuerlich“.
Wenig später saßen Beust und Schill nun absurderweise bei der Pressekonferenz zum Eklat gemeinsam vor den völlig perplexen Hamburger Journalistinnen und Journalisten. Beust habe Schill den Auftritt nicht untersagen wollen, um nicht den Eindruck von Zensur entstehen zu lassen, hieß es später. Ohne den neben ihm sitzenden Schill eines Blickes zu würdigen, verkündete der gerade erst gut gebräunt aus dem Segelurlaub in Kroatien zurückgekehrte von Beust die Entlassung des Innensenators und seines Staatsrats Wellinghausen – und eben die Begründung zu diesem einmaligen Vorgang. Ohne Fragen zuzulassen, verließ er danach die Pressekonferenz und überließ Schill das Feld.
Schill lieferte einen der bizarrsten Auftritte, den es im Hamburger Rathaus je gegeben hat
Es folgte einer der bizarrsten Auftritte eines (nun Ex-)Senators in der Hamburger Geschichte. Der frühere Amtsrichter schwieg zunächst lange und bestritt dann einen Erpressungsversuch. Zugleich aber behauptete er, Kusch und von Beust „hatten und haben ein homosexuelles Verhältnis“.
Es gebe Zeugen für einen „Liebesakt“ zwischen den beiden in von Beusts Privatwohnung in St. Georg, die der Bürgermeister an seinen alten Studienkollegen Kusch vermietet hatte. Mit diesem Auftritt hatte sich Schill bei so gut wie allen Beobachtern vollständig unmöglich gemacht, selbst bei den meisten seiner politischen Mitstreiter.
Wie das Abendblatt zum Ende von Schills politischer Karriere beigetragen hat
Im Vorfeld dieses in der Hamburgischen Geschichte wohl einmaligen politischen Schmierentheaters hatte auch das Abendblatt eine wesentliche Rolle gespielt. Denn es war diese Zeitung, die unter der Führung der mittlerweile viel zu jung verstorbenen Polizeireporterin Kristina Johrde recherchiert und veröffentlicht hatte, dass Innenstaatsrat Walter Wellinghausen ungenehmigten Nebentätigkeiten nachgegangen war – und zwar als Vorstand einer Münchner Klinik und für eine Hamburger Radiologenpraxis.
Nach weiteren Vorwürfen und Berichten und Sondersitzungen des Innenausschusses entschied von Beust offenbar, dass Wellinghausen nicht mehr zu halten war. Ein halbes Jahr nach dem Rathaus-Eklat kam dann auch ein Disziplinarverfahren zu dem Schluss, dass Wellinghausen ein Dienstvergehen begangen hatte. Wellinghausen räumte schließlich selbst ein, Fehler gemacht zu haben.
Schills Karriere fußte auf Maßlosigkeit, Provokation – und den Fehlern der Regierenden
Dass Schill seinen politisch in der SPD beheimateten Innenstaatsrat trotzdem mit aller Macht halten wollte, hatte wohl vor allem einen Grund: Der gewiefte Rechtsanwalt Wellinghausen war es, der die eigentliche Arbeit in der Innenbehörde machte. Er hielt den Laden am Laufen, während Schill selbst nicht für seinen Arbeitseifer berühmt war und sich vor allem bei PR-Terminen sehen ließ.
Dabei war das unrühmliche Ende seiner Laufbahn keineswegs der einzige Eklat, den Schill verursachte. Die gesamte politische Karriere des charismatischen Ex-Amtsrichters fußte von Beginn an auf Maßlosigkeit und Provokation – aber auch darauf, dass der seinerzeit regierende rot-grüne Senat nicht erkannte, wie groß der Missmut vieler Bürger über die offene Drogenszene mitten in der Stadt und die hohen Kriminalitätszahlen war.
Hamburg galt zu Beginn der 2000er-Jahre als deutsche „Hauptstadt des Verbrechens“ mit den meisten Straftaten pro 100.000 Einwohner. Zudem gab es nach 44 Jahren SPD-Regierung auch immer neue Filz-Vorwürfe gegen die SPD, die ihre verdienten Genossen immer wieder an der Spitze städtischer Unternehmen platzierte und offenbar sogar vom Beitrags- und Steuerzahler finanzierte Vereine für eigene Wahlkämpfe einspannte. Selbst ein Filz-Untersuchungsausschuss wurde deswegen in der Bürgerschaft eingerichtet und zwei als links geltende Journalisten zeichneten in dem von Unternehmer und Statt-Partei-Spitzenkandidat Jürgen Hunke finanzierten Buch „Das Machtkartell“ nach, wie sich die SPD-Netzwerke mittlerweile durch viele Bereiche der Stadt zogen.
Schill war der erste so erfolgreiche Rechtspopulist, Hamburg quasi das Versuchslabor der Republik
Vor diesem Hintergrund arbeitete Schill zielstrebig an seinem Aufstieg. Wegen seiner überharten Urteile, bei denen er u.a. eine Frau ins Gefängnis schickte, die ein Auto zerkratzt hatte, war der im Grunde unbedeutende Amtsrichter vom Boulevard „Richter Gnadenlos“ getauft worden. Er äußerte sich in Medien bald immer wieder über eine aus seiner Sicht zu lasche Justiz und erreichte so größere Bekanntheit. Im Jahr 2000 gründete er die „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ (PRO), die den Bürgern mehr Einsatz für die Innere Sicherheit versprach und sich für eine Verschärfung des Strafrechts und die konsequente Abschiebung von straffälligen Migranten einsetzte. Aus dem Stand erreichten Schill und seine Partei bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 dann 19,4 Prozent.
Im Rückblick ist Ronald Schill der erste derart erfolgreiche deutsche Rechtspopulist der jüngeren Geschichte gewesen und sein Wahlerfolg auch ein Vorläufer der aktuellen AfD-Erfolge – selbst wenn Schill und seine Partei, anders als AfD-Politiker, nicht durch rechtsextremistische oder neonazistische Aussagen auffielen.
Olaf Scholz konnte damals Schill nicht eindämmen – und heute nicht das Wachstum der AfD
Interessanterweise war es ein gewisser Olaf Scholz, der Schill damals als Hamburger SPD-Vorsitzender trotz aller Bemühungen um einen härteren Kurs in der Inneren Sicherheit nichts Wirksames entgegenzusetzen wusste – so wie es ihm heute als Bundeskanzler misslingt, den AfD-Aufstieg zu bremsen. Die CDU dagegen wollte damals nichts wissen von einer „Brandmauer“ nach rechts, wie sie sie heute gezogen hat: Schon ein Dreivierteljahr vor der Bürgerschaftswahl hatte CDU-Spitzenkandidat Ole von Beust im Abendblatt angekündigt, er würde auch mit Schill koalieren.
So geschah es dann auch: Zusammen mit der FDP formierte sich im Oktober 2001 ein Mitte-Rechts-Dreierbündnis – und die ersten Skandale ließen nicht lange auf sich warten. Im Februar 2002 schrieb der „Spiegel“ unter der Überschrift „Hundert Tage Peinlichkeit“, Schill mache mit Kiezkontakten und Kokaingerüchten mehr Schlagzeilen als mit seiner Kriminalpolitik.
Kokainverdacht, Haarprobe und ein Redeeklat bei Rede zur Jahrhundertflut im Bundestag
Das NDR-Magazin „Panorama“ präsentierte einen angeblichen Kronzeugen, der Schill beim Kokainkonsum beobachtet haben wollte, und auch Bürgerschaftsabgeordnete nährten diesen Verdacht. Schill ließ daraufhin einen Kokaintest in München machen, der negativ ausgefallen sein soll. Jahre später allerdings veröffentlichte „Bild“ ein seltsames Video, auf dem Schill Pulver konsumiert und sagt: „Jetzt wirkt das Koks bei mir.“
Im August 2002 sorgte Schill für einen Eklat im Bundestag, als er in einer Rede zur Flutkatastrophe behauptete, Deutschland fehle Geld zur Behebung der Schäden, weil es zu viel für Entwicklungshilfe und Flüchtlinge ausgebe. Als er nach Ende seiner angemeldeten Redezeit weitersprach, drehte die Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs (SPD) ihm das Mikro ab. In Hamburg sorgte Schills Auftritt für eine Koalitionskrise: CDU und FDP kritisierten seine im Zusammenhang mit der Flut unpassenden Behauptungen zur Flüchtlingspolitik. Schill hatte die bundesweite Bühne dagegen wohl bewusst genutzt, denn seine Partei trat bei der Bundestagswahl im September 2022 auch bundesweit an, kam aber dabei nur auf 0,8 Prozent und landete damit knapp vor NPD und Republikanern.
Schill fordert Moskauer Betäubungsgas für Hamburger Polizei – und CDU-Kusch verteidigt ihn
Im Dezember 2002 provozierte Schill die nächste Aufregung: Bei der Innenministerkonferenz in Bremen schlug er die Beschaffung des Gases vor, das die Moskauer Polizei bei einem Geiseldrama benutzt hatte. Dabei waren weit mehr als 120 Geiseln gestorben. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) rief Schill zur Ordnung. Der damalige Justizsenator und Beust-Studienfreund Roger Kusch (CDU) allerdings verteidigte Schill gegen die folgende Kritik. Kein Wunder: Kusch selbst hatte sich gerade im russischen St. Petersburg und in einem berüchtigten Internierungslager des US-Sheriffs Joe Arpaio in der Wüste von Arizona Anregungen geholt, wie man den Hamburger Strafvollzug verschärfen könne.
Im Frühjahr 2003 kam es erneut zum Koalitionsstreit, als Schill einen von der CDU befürworteten Staatsvertrag mit den Kirchen ablehnte und dem Abendblatt mit Blick auf ein Deckengemälde im Rathaus sagte: „Ein Hamburger kniet vor niemandem nieder, auch nicht vor der Kirche. Wer einen Vertrag schließt, verpflichtet sich zu etwas, er unterwirft sich.“
„Drachentöter“ Beust erringt absolute Mehrheit – Schill wandert aus und wird Trash-TV-Star
Nicht unterworfen, aber hinausgeworfen fand sich Schill dann schließlich im August 2003 nach dem Rathaus-Eklat. Viele seiner Parteifreunde wandten sich von ihm ab, Schills früherer Büroleiter Dirk Nockemann wurde neuer Innensenator – heute ist er Hamburger AfD-Chef. Von Beusts Versuche, die Koalition mit einer Schill-Partei ohne Schill weiterzuführen, scheiterten, zumal Schill noch genug Getreue unter den Abgeordneten hatte, sodass die Mehrheit des Dreierbündnisses in der Bürgerschaft nicht mehr sicher war. Im Dezember 2003 erklärte von Beust „Jetzt ist finito“, beendete die Koalition und rief Neuwahlen für Februar 2004 aus. In einem historischen Sieg gewann er dabei mit seiner CDU die absolute Mehrheit.
Offenbar hatten die Hamburger von Beust nicht als denjenigen wahrgenommen, der einen wie Schill erst an die Macht gebracht hatte – sondern als eine Art Drachentöter, der Hamburg von dem Ungeheuer befreit hatte. Schill selbst scheiterte noch mit dem Versuch einer weiteren Parteigründung, wanderte später nach Brasilien aus und tritt seither immer mal wieder, bisweilen auch nackt, in Reality-Formaten von privaten TV-Sendern auf.
Schill hat Spuren hinterlassen: blaue Uniformen, grüne Pfeile und eine sensibilisierte SPD
Bei allen Skandalen und aller Aufregung dieser Jahre hat Schill aber auch bis heute sichtbare Spuren in Hamburg hinterlassen. Dazu gehören die von ihm eingeführten blauen Polizeiuniformen und Peterwagen und der grüne Abbiegepfeil, der an einigen Ampeln das Abbiegen auch bei Rot erlaubt.
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Auch politisch hat Schill die Stadt verändert: Traumatisiert durch den Machtverlust von 2001 hat sich die SPD vorgenommen, sich beim Thema Innere Sicherheit nie wieder eine Blöße zu geben – und den Slogan ihres früheren Bürgermeisters Henning Voscherau zu beherzigen: „Law and order is a Labour issue“, frei übersetzt „Recht und Ordnung sind eine sozialdemokratische Angelegenheit.“ Etwa bei den aktuellen Debatten um den Hauptbahnhof ist dieses Trauma der SPD bis heute zu spüren. Auch die Grünen treten heute beim Thema Innere Sicherheit weitaus pragmatischer auf als vor 20 Jahren.
Eine zentrale Lehre aus der Hamburger Episode Ronald Schill – auch für heute
Eines hat die Episode Schill aber wohl auch gezeigt: Rechtspopulisten werden auch dadurch stark, dass Regierungen Probleme ignorieren oder verharmlosen, die viele Menschen als wirklich bedrohlich empfinden. Zu einer wirklichen Lösung tragen sie dann aber auch nicht wirklich bei. Womöglich kann man auch heute, 20 Jahre nach dem historischen Eklat im Hamburger Rathaus, daraus noch konstruktive Lehren ziehen – auch über Hamburg hinaus.