Hamburg. Vor 20 Jahren trat der angesehene Bürgermeister nach enttäuschendem SPD-Wahlergebnis zurück – mit Gefühl fürs Timing.

Dass sich Henning Voscherau(1941–2016) auf die Kunst der Inszenierung verstand, wussten alle, die diesen Ersten Bürgermeister in seiner Amtszeit aus der Nähe erlebt hatten. Sein Rücktritt vor 20 Jahren am 21. September 1997 war jedoch, man muss es so sagen, ein bühnenreifer Auftritt dieses Sprosses einer Schauspielerfamilie. Es war ein politischer Paukenschlag mit Ansage und ein denkwürdiger Augenblick der Nachkriegsgeschichte der Stadtrepublik an Elbe und Alster.

Kaum hatte sich die herbe Niederlage der SPD bei der Bürgerschaftswahl abgezeichnet – die Partei sackte mit 36,2 Prozent auf das bis dahin schlechteste Nachkriegsergebnis ab –, trat Voscherau am Wahlabend um kurz nach 20 Uhr vor die Kameras der „Tagesschau“.

Rücktritt live im Fernsehen

„In der neu gewählten Bürgerschaft werde ich, da meine Schmerzgrenze unterschritten ist, nicht erneut für das Amt des Ersten Bürgermeisters kandidieren. Meiner Heimatstadt Hamburg wünsche ich Glück, sie wird es brauchen“, las ein sichtlich gezeichneter Voscherau mit fester Stimme seine vorbereitete Erklärung vor. Nie zuvor hatte ein Ministerpräsident live im Fernsehen seinen Rücktritt erklärt.

Ole von Beust (mit
Kanzler Kohl) war 1997
CDU-Spitzenkandidat
Ole von Beust (mit Kanzler Kohl) war 1997 CDU-Spitzenkandidat © picture-alliance

Die persönliche „Schmerzgrenze“ des Ersten Bürgermeisters hatte schon im Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt. Voscherau spürte, dass sich der Wind gegen die seit Jahrzehnten regierenden Sozialdemokraten gedreht hatte. Dagegen warf der nach wie vor beliebte Bürgermeister, der seit 1988 im Amt war, seine Popularität in die Waagschale. Auf seine Art: Voscherau drohte, er werde zurücktreten („Zur Primetime, in der ,Tagesschau‘!“), wenn seine „Schmerzgrenze“ beim Wahlergebnis unterschritten werde, wobei er klug genug war, nicht zu sagen, wo genau er die Messlatte für sich aufgelegt hatte. Dieses Unbestimmt-Sphinxhafte war durchaus ein Wesenszug des Sozialdemokraten. Manch ein Wähler fühlte sich da erpresst ...

„Volkszorn – nicht nur gegen die SPD“

Es war ein aufwühlender und aufreibender Wahlkampf: Vor allem in den klassischen Arbeiterstadtteilen und einstigen SPD-Hochburgen machte der sensible und aufmerksame Politiker, der seine Stadt und ihre Milieus genau kannte, in den Wochen vor der Wahlentscheidung eine aggressive Stimmung aus, die sich nicht zuletzt gegen die SPD und ihren Bürgermeister richtete. Sie bildeten seit 1993 mit der Statt Partei eine Kooperation genannte Koalition.

Voscherau sprach kurz nach seinem Rücktritt im Abendblatt-Interview von „Volkszorn – nicht nur gegen die SPD, sondern gegen alles – grundstürzend“. Der heute aktuelle Begriff des Wutbürgers war da noch nicht geprägt, die Reflexe sind verblüffend ähnlich. Es war eine Zeit des Anstiegs der Kriminalität, die Drogenproblematik spielte eine große Rolle, und in der Folge der Balkankriege hatte die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber stark zugenommen. Auftrieb für Rechtsaußen.

Innere Sicherheit war die Achillesferse

Voscherau hatte erkannt, dass die innere Sicherheit die Achillesferse der Sozialdemokraten war, doch er hatte sich mit einem härteren Law-and-order-Kurs in seiner Partei gegen den linken Flügel nicht durchgesetzt. Aber er hatte auch die große innerparteiliche Auseinandersetzung nicht gesucht, wie er später selbstkritisch anmerkte. Bei der Wahl scheiterte die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) nur hauchdünn mit 4,98 Prozent am Einzug in die Bürgerschaft. In Hamm, Rothenburgsort oder Wilhelmsburg waren deren Ergebnisse zweistellig. Vier Jahre später war ein gewisser Ronald Schill an der Macht.

Ortwin
Runde (SPD)
wurde
Nachfolger
Voscheraus
Ortwin Runde (SPD) wurde Nachfolger Voscheraus © picture-alliance

So wichtig die Empörung über rechtsextremistische Tendenzen und das Eingeständnis eigenen Versagens für diesen Sozialdemokraten war – es wäre zu kurz gegriffen, darin den einzigen Grund für seinen Rücktritt zu sehen. Voscherau war ein stolzer Sozialdemokrat – bei allem Leiden an seiner Partei – und ein ebenso stolzer Bürgermeister, der zudem in historischen Kategorien dachte. Der Gedanke, dass sich das schlechteste Nachkriegsergebnis seiner Partei im einst roten Hamburg mit seinem Namen verband, war ihm unerträglich.

Die legendären Bürgermeister Max Brauer und Herbert Weichmann (beide SPD) – vor allem der Erste war Voscheraus Vorbild – hatten Ergebnisse von mehr als 50 Prozent geholt. Mit diesen 36,2 Prozent, befürchtete Voscherau, könne er kein starker Bürgermeister mehr sein und zum Spielball der Interessen anderer werden. Das Wahlergebnis sei als Grundlage für seine zukünftige Arbeit „zu wenig“, bekannte er am Wahlabend.

Machtpolitisch war die Demission unnötig

„Es legitimiert für vier Jahre für mich nichts“, fügte er bitter hinzu. Das war stark übertrieben. Machtpolitisch gesehen war die Demission unnötig. Immerhin waren die Rechtsextremen nicht in die Bürgerschaft eingezogen, und die SPD blieb mit deutlichem Abstand stärkste Partei vor der CDU, die sich mit ihrem neuen Spitzenkandidaten Ole von Beust um 5,6 auf 30,7 Prozent verbessern konnte. Die SPD hatte jedoch einen klaren Regierungsauftrag.

Am Tag nach der Wahl wird ein
Voscherau-Plakat kopfüber abtransportiert
Am Tag nach der Wahl wird ein Voscherau-Plakat kopfüber abtransportiert © picture-alliance

Nein, die wahren Gründe für seinen Rückzug aus der aktiven Politik lagen daher tiefer: Voscherau hatte sich in seiner Amtszeit aufgerieben. Er war die ständigen internen Auseinandersetzungen mit den Linken in der SPD leid – eine Fehde, die ihn sein politisches Leben von Beginn an begleitet hatte. Voscherau, dieser in der Stadt und nicht zuletzt in Wirtschaftskreisen hoch anerkannte Mann, hatte sich schon das eine oder andere Mal im Senat überstimmen lassen und somit gegen seine Überzeugung gehandelt. Dieses ungewöhnliche Vorgehen hatte Züge von Resignation.

Mit dem Wahlergebnis vom 21. September 1997 war nun zudem das erste rot-grüne Bündnis im Rathaus in greifbarer Nähe. Die FDP war an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und stand als Alternative nicht zur Verfügung. Die linken Sozialdemokraten wollten seit Langem Rot-Grün, und Voscherau argwöhnte, dass linke Rote und die Grünen zusammen eine Anti-Voscherau-Politik durchsetzen wollten.

Er hat sich später über seinen Schritt geärgert

Die politische Ironie liegt darin, dass Voscheraus Nachfolger Ortwin Runde vom linken Parteiflügel in den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen die zentralen Positionen der In­frastrukturpolitik Voscheraus durchsetzte: die Hafenerweiterung Moorburg, die Teilzuschüttung des Mühlenberger Lochs zur Airbus-Werkserweiterung oder die Elbvertiefung.

„Ich habe keinen Anlass zum Ärger oder gar zur Bitterkeit. Ich bin wirklich traurig. Es ist ein Teil meines Lebens, der jetzt herausgerissen wird“, bekannte Voscherau unmittelbar nach dem Rücktritt. Letzteres stimmte wirklich, er litt sehr unter dem Amtsverlust. Bei Ärger und Bitterkeit war er nicht ehrlich. Er war zutiefst verbittert, und er hat sich so manches Mal geärgert, aus dem Amt gegangen zu sein. Ja, er hat den konsequent-ehrenhaften Schritt angesichts der weiteren politischen Entwicklung später wohl auch bereut.