Hamburg. Erster rot-grüner Versuch scheiterte. Diesmal verhandeln Grüne aus der Regierung heraus – und waren nie besser vorbereitet.

Wenn am kommenden Montag – drei Wochen nach der Bürgerschaftswahl – SPD und Grüne voraussichtlich zur ersten Runde ihrer Koalitionsverhandlungen zusammenkommen, geschieht dies an einem durchaus historischen Ort für derlei Angelegenheiten: im Bürgersaal des Rathauses. Bereits vor fünf Jahren hatten beide Senatsparteien in dem Raum, der an die „gute Stube“ eines bürgerlichen Haushalts des 19. Jahrhunderts erinnern soll, ihre Verhandlungen über ein Regierungsbündnis begonnen.

Für Sozialdemokraten sind Koalitionsverhandlungen nach Bürgerschaftswahlen gewissermaßen der Normalfall. Hin und wieder konnte die SPD in den vergangenen 70 Jahren allein regieren, was Verhandlungen entbehrlich machte, in selteneren Fällen entschieden andere Parteien, wer regiert. Aber auch für die einstige Spontipartei Grüne ist es schon der fünfte Gesprächsmarathon mit der Perspektive Senatsbildung, sieht man einmal von den mehr spielerisch-provokativen „Verhandlungen“ in den 80er-Jahren ab. Zum vierten Mal sitzen den Grünen nun Genossen gegenüber, einmal waren es Christdemokraten. Die bisherige Bilanz: Dreimal wechselten die Grünen am Ende der Gespräche auf die Senatsseite, einmal ging die Sache grandios daneben.

Voscherau hielt Grüne für unsichere Kantonisten

Das war gleich beim ersten Mal 1993, und der damalige Gegenspieler, der Begriff ist treffend, war der 2016 verstorbene Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD). Die atmosphärischen Störungen zwischen SPD und Grünen, die den aktuellen Wahlkampf 2020 mitprägten, sind laue Lüftchen gegen die Gewitter der wechselseitigen Wutausbrüche, aber auch die Eiseskälte der Distanziertheit, die die Gespräche damals prägten.

Das lag auch daran, dass die SPD damals eine zerrissene Partei war. Voscherau und der Mitte-Rechts-Flügel begegneten den Grün-Alternativen, wie sie sich noch nannten, mit tiefer Skepsis und teils offener Ablehnung, während den linken Flügel der Partei zum Teil gemeinsame Überzeugungen mit den Grünen verbanden. Zum Vergleich: In dieser Woche hat sich der SPD-Landesvorstand einstimmig auf Koalitionsgespräche mit den Grünen statt der CDU verständigt.

Landesvorstand für Koalitionsverhandlungen mit den Grünen

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, was damals in der SPD los war. Voscherau und seine Getreuen wollten ein Bündnis mit der bürgerlich-konservativen STATT Partei eingehen, die Parteilinken mit den Grünen. Voscherau beschwor seine Partei-„Freunde“ im Landesvorstand geradezu, sich nicht mit den Grünen einzulassen, die er für unsichere Kantonisten hielt. Außerdem befürchtete er, die SPD-Linken könnten gemeinsame Sache mit den Grünen gegen ihn, Voscherau, machen – eine Art „Anti-Voscherau-Politik mit Voscherau an der Spitze“, wie er es zugespitzt nannte.

Es half nichts. Mit 13:11 stimmte der Landesvorstand für Koalitionsverhandlungen mit den Grünen. Das stimmberechtigte Vorstandsmitglied Voscherau war zum Zeitpunkt der Abstimmung auf der Toilette ... Voscherau bot nach der Entscheidung seinen Rücktritt als Erster Bürgermeister an. Der Landesvorstand lehnte ab und zwang Voscherau so zu tun, was er nicht wollte: mit den Grünen über die Bildung des Senats zu reden.

Knallharte Bedingungen für grün-rotes Bündnis

Als Erstes präsentierte der Bürgermeister ein neunseitiges persönliches Eckpunktepapier, „Essentials“ genannt. Die Bedingungen für ein Bündnis waren aus grüner Sicht knallhart: Alle großen Infrastrukturprojekte – die Hafenerweiterung Altenwerder, die vierte Elbtunnelröhre und, ja, die bis heute noch nicht gebaute Hafenquerspange – sollten umgesetzt werden, dazu ein drastischer Ausbau der Müllverbrennung und das Ende des Projekts Hafenstraße, im Zweifel durch eine Räumung. Kurzum: „Kein spielerischer Umgang mit den Grundfunktionen der Stadt.“ Voscherau hatte die sozialdemokratische Losung ausgegeben, die sein heutiger Nachfolger Peter Tschentscher (SPD) noch im abgelaufenen Wahlkampf mit Blick auf die Grünen bisweilen verwendet hat.

Die Grünen bekamen damals, noch eine klar linke Partei, angesichts der diversen Kröten, die sie schlucken sollten, Schnappatmung. Einer forderte das Ende der „Quatschverhandlungen“. Über Wochen zogen sich die quälenden Runden hin, bis SPD und Grüne nach einem erneuten Sitzungsmarathon den Bürgersaal (!) mit eisigen Mienen verließen. Die Grünen hatten die Gespräche endgültig für gescheitert erklärt.

Krista Sager: „Voscherau blinkt links, biegt aber rechts ab.“

Voscherau hatte sich letztlich durchgesetzt und zimmerte nun tatsächlich ein Bündnis mit der STATT Partei. Legendär ist der trocken-gallige Kommentar der Grünen-Verhandlungschefin Krista Sager: „Voscherau blinkt links, biegt aber rechts ab.“ Vier Jahre später trat er am Wahlabend spektakulär zurück, weil das SPD-Ergebnis (36,2 Prozent) unter seiner „Schmerzgrenze“ lag.

Nachfolger Ortwin Runde vom linken Parteiflügel einigte sich mit den Grünen auf die erste rot-grüne Koalition und setzte Voscheraus Standortpolitik gleichwohl durch beziehungsweise fort. Stichworte: eine Elbvertiefung und die Bewerbung um den Bau des Airbus A380, für dessen Fertigung das Mühlenberger Loch zum Teil zugeschüttet werden musste. Die Grünen konnten andererseits damals schon eine moderne Radfahrpolitik und die Förderung des Zufußgehens im Koalitionsvertrag verankern.

Das Gesprächsklima zwischen SPD und Grünen in den Verhandlungen sei von „Distanz und Misstrauen“ geprägt gewesen, sagte Sager später einmal. Auf die erste Auflage von Rot-Grün blicken die Grünen bis heute nicht gern zurück. Aus deren Sicht hätten die Sozialdemokraten ihre Regierungserfahrung gegenüber dem unerfahrenen Koalitionspartner häufig ausgespielt und dabei durchaus Arroganz der Macht gezeigt.

Bei Schwarz-Grün war viel von gleicher Augenhöhe die Rede

Das war beim schwarz-grünen Bündnis 2008 ganz anders. Bei der bundesweiten Premiere dieser Konstellation war viel von gleicher Augenhöhe der Partner die Rede. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und die Zweite Bürgermeisterin Christa Goetsch (Grüne) verstanden sich prächtig. Zwar mussten die Grünen die Kröte Kohlekraftwerk Moorburg schlucken, aber sie setzten mit der sechsjährigen Primarschule und dem Stadtbahnstart zwei grüne Großprojekte durch. Nur dumm, dass beide scheiterten. Nach zwei Jahren zerbrach das Bündnis, der Stabilisator von Beust hatte sich verabschiedet, der Vorrat an Gemeinsamkeiten war aufgebraucht.

Als die SPD 2015 ihre 2011 errungene absolute Mehrheit verlor, verhandelte Bürgermeister Olaf Scholz sofort mit den Grünen – und sondierte nicht auch mit der FDP wie jetzt Tschentscher mit der CDU. Doch das Klima zwischen Roten und Grünen war durchaus wieder angespannt, auch wenn die ideologischen Gräben der 90er-Jahre längst zugeschüttet sind. Scholz strapazierte die Nerven der Grünen aufs Äußerste, als er nach der Einigung gönnerhaft sagte, das schöne SPD-Regierungshaus bekomme nun einen grünen „Anbau“. Diesmal hielt das Bündnis sogar fünf Jahre, erwies sich als stabil bei der Flüchtlingskrise und den schweren Erschütterungen durch G 20 und galt lange Zeit als harmonisch.

Zurzeit verhandeln die Grünen – und waren nie besser vorbereitet

Und jetzt? Zum ersten Mal seit 1970 kann ein Senat durch Wiederwahl in eine zweite Legislaturperiode gehen. Und zum ersten Mal verhandeln die Grünen aus der Regierung heraus. Mit anderen Worten: Sie waren nie besser vorbereitet. Das strukturelle Defizit jedes SPD-Regierungspartners gegenüber der Partei, die nicht nur die ganze Stadt im Blick, sondern auch im Griff hat, wie nicht nur Spötter meinen, ist ein Stück weit abgebaut. Die Grünen haben im Senat selbst Herrschaftswissen erworben.

Die Grünen sind längst eine pragmatische Partei, die sich als kompromissfähig erwiesen hat. Die SPD beharrt wieder auf den großen Infrastrukturprojekten – A 26 Ost, Köhlbrandquerung –, aber angesichts des historischen Wahlerfolgs der Grünen von 24,2 Prozent wird der Preis für die SPD diesmal sehr hoch sein. Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) hat schon die deutliche grüne Handschrift eingefordert. Dennoch: Anders als 2015 fangen beide Parteien nicht bei null an, sondern haben Vertrauen aufgebaut. In vielen politischen Bereichen wird es um die Fortsetzung des gemeinsamen Wegs gehen. So spricht doch mehr dafür, dass es diesmal im Bürgersaal ein Happy End gibt.