Hamburg. Neben dem Schweizer Ausnahmekünstler ist Nan Goldin mit ihren Fotografen-Freunden in „High Noon“ zu erleben – ein Skandal wie in Berlin?

  • „High Noon“ versammelt Werke von Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca diCorcia
  • Goldins Fotografien zeigen Intimität und Freundschaft, aber auch Katerstimmung und Tod durch die AIDS-Erkrankung
  • Mit dem Riesengemälde „Medici“ gelang Franz Gertsch 1972 der internationale Durchbruch auf der documenta 5

Die Kunst der Nan Goldin war in früheren Zeiten ein Aufreger. Die US-amerikanische Fotokünstlerin hatte und hat ihren Blick stets auch auf die weniger glamourösen Seiten der Gegenkultur gerichtet: Drogensüchtige, Homosexuelle, Transvestiten, Gestalten der Nacht. Ihr künstlerisches Schaffen hat sie auch immer politisch verstanden. In der Berliner Nationalgalerie ist derzeit eine Wanderausstellung zu sehen, bei deren Eröffnung es anlässlich einer Rede der Künstlerin zum Eklat kam, als propalästinensische Sympathisanten den Museumsdirektor Klaus Biesenbach niederbrüllten.

Jahresvorschau Deichtorhallen
Nan Goldin: „Jimmy Paulette And Tabboo! In The Bathroom“, New York City, 1991 © Nan Goldin, Courtesy the artist and Gagosian | Nan Goldin, Courtesy the artist and Gagosian

Ein derart unwürdiges Szenario ist in Hamburg nicht zu erwarten, wenn Nan Goldin, Jahrgang 1953, ab dem 13. Dezember Teil der deutlich kleineren Schau einer Doppelausstellung in der Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen Hamburg sein wird. „High Noon“ versammelt Werke von Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca diCorcia aus der Sammlung des 2021 gestorbenen F.C. Gundlach. Er hatte bereits Ende der 1990er-Jahre begonnen, Nan Goldins Arbeiten zu sammeln. Mit 111 Werken verfügt die Sammlung weltweit über das größte Konvolut.

Doppel-Schau in den Deichtorhallen Hamburg: Unbarmherzig, zart, nah am Leben

Die von Sabine Schnakenberg kuratierte Ausstellung widmet sich 150 meist unbarmherzig wie von der Mittagssonne ausgeleuchteten Werken. Goldins Fotografien zeigen Intimität, Verbundenheit und Freundschaft, aber auch Katerstimmung und Tod durch die AIDS-Erkrankung. Von ihrem engen Freund David Armstrong (1954–2014) sind sensible, zarte Schwarz-Weiß-Porträts zu sehen. Mit Überlagerungen von schwarz-weißen und farbigen Negativen arbeitet wiederum die Fotografie des Mark Morrisroe (1959–1989), der seine Homosexualität in den Fokus rückte. Während Philip-Lorca diCorcia (geb. 1953) Alltägliches in einem bewusst arrangierten Ambiente überinszenierte.

Philip-Lorca diCorcia
Philip-Lorca diCorcia, „Mary and Babe, N.Y.“, 1982. Die Fotografie aus der Sammlung F.C. Gundlach ist in den Deichtorhallen Hamburg in der Schau „High Noon“ zu sehen. © Philip-Lorca diCorcia, Courtesy of the artist, Sprüth Magers and David Zwirner | Philip-Lorca diCorcia, Courtesy of the artist, Sprüth Magers and David Zwirner

Den viel größeren Raum in der Halle nimmt aber die Schau „Blow-Up. Eine Retrospektive“ über den Schweizer Künstler Franz Gertsch (1930–2022) ein. Seine Kunst speist sich – ähnlich wie jene der Fotokunstschaffenden – aus der seit den 1970er-Jahren grassierenden Subkultur und später dem Punk. Man sieht junge Feiernde, Kinder am Strand, aber auch Menschen aus der Kunst- und Musikszene wie Patti Smith oder die Rolling Stones.

Mehr Kultur in Hamburg

Für die retrospektive Ausstellung wurde eine Schau des dänischen Louisiana Museum of Modern Art um weitere 20 Werke ergänzt. Zu sehen sind großformatige, bis zu sechs Meter breite Gemälde, Frauenporträts aus den 1980er-Jahren, epische Landschaften und Naturaufnahmen aus der späten Schaffensphase sowie monumentale Holzschnitte. In einer Zeit, in der die Konzeptkunst hoch im Kurs stand, prägte Gertsch einen neuen Begriff des Realismus in der Malerei. Er begann mit fotorealistischen Gemälden, basierend auf meist eigenen Fotografien, die er aufwendig mittels Diaprojektion als Malerei oder Druckgrafik auf die Leinwand übertrug. Mit dem Gemälde „Medici“ gelang ihm 1972 der große internationale Durchbruch auf der documenta 5.

Franz Gertsch
Der Künstler Franz Gertsch 1984 vor dem gerade fertiggestellten Riesenporträt „Johanna“, das er mittels Diaprojektion als Druckgrafik auf die Leinwand übertrug. Es ist Teil der Ausstellung „Blow Up“ in den Deichtorhallen Hamburg. © Franz Gertsch AG. Foto: Balthasar Burkhard | Franz Gertsch AG. Foto: Balthasar Burkhard

Später wandte er sich einer zeitintensiven Technik des Holzschnitts zu. Die Drucke zeigen punktartige Pigmente, die den meist monochrom gehaltenen Porträts und Naturlandschaften Bewegung und Leben geben. Eine Schau, die einlädt, besondere Techniken zu entdecken – aber auch eine große Freiheit und einen Realismus. In der Kunst und im Leben.

„Franz Gertsch. Blow-Up“ und „High Noon“, Werke aus der Sammlung F.C. Gundlach; 13.12. bis 4.5.2025, Halle für aktuelle Kunst/Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1–2, Di-So 11 bis 18 Uhr, 1. Do im Monat 11 bis 21 Uhr; www.deichtorhallen.de

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