Hamburg. In „All the Beauty and the Bloodshed“ geht es um das Suchtmittel Oxycontin – und den Tod der Schwester von Fotokünstlerin Nan Goldin.
„Braucht ihr noch Dosen?“ Sie treffen sich vor dem Gebäude, betreten das Museum gemeinsam. Und starten ihre Aktion mit einem Codewort. Nein, die Rede ist hier nicht von Angehörigen der sogenannten Letzten Generation, die sich mal wieder an Kunstwerke kleben.
Die Demonstranten im März 2018 im New Yorker Metropolitan Museum sind vielmehr Opfer der Opioidkrise. Und deren Angehörige. Sie legen sich zwischen Protestschilder und Medikamentendosen auf den Boden und skandieren im Sprechchor: „Sacklers lie! People die.“ Die milliardenschwere Sackler-Familie geriert sich als generöser Kunstmäzen des Museums, der Flügel, in dem die Aktion stattfindet, trägt ihren Namen. Und doch haben die Sacklers ihr Vermögen mit dem Schmerzmittel Oxycontin gemacht, das stark süchtig macht, auch wenn sie das Gegenteil behauptet haben. Mehr als eine halbe Million Menschen sind an einer Überdosis gestorben.
Neu im Kino: ein aufrüttelnder Film über den Kampf gegen Pharma-Multis
Unter den Protestierenden: die US-Fotografin Nan Goldin. Für sie geht es hier um alles. Sie kennt die Sacklers aus diversen Museen. Sie riskiert, dass ihre eigenen Werke nie wieder ausgestellt werden. Aber auch sie war ein Opfer von Oxycontin. Wurde süchtig über Nacht. Obwohl sie das Mittel streng nach Vorschrift angewendet hat.
Nun will sie erreichen, dass die Museen sich von ihren mörderischen Mäzenen lossagen. Und die Künstlerin hat nicht nur die Betroffenengruppe P.A.I.N. hinter sich, sondern auch die renommierte Filmemacherin Laura Poitras, die 2015 für ihren Dokumentarfilm „Citizenfour“ über den Whistleblower Edward Snowden einen Oscar gewonnen hat.
„All the Beauty and the Bloodshed“: sozusagen zwei Filme in einem
Erst im März wurde Goldin in Berlin, wo sie in den 1980er-Jahren eine Zeit lang gelebt hat, der Käthe-Kollwitz-Preis verliehen. Dazu gab es bis Mitte April eine Ausstellung in der Akademie der Künste am Hanseatenweg mit Fotoarbeiten aus fünf Jahrzehnten. Dort wurde auch schon Poitras’ Film „All the Beauty and the Bloodshed“ gezeigt, der 2022 auf dem Filmfest von Venedig (als erst zweiter Dokumentarfilm in der Festivalgeschichte) den Goldenen Löwen gewann und nun in die deutschen Kinos kommt.
Es sind sozusagen zwei Filme in einem. Poitras begleitet die Fotografin bei ihrem Kampf gegen die Sacklers und deren übermächtigen Pharmakonzern Purdue. Bei Störaktionen in der Met, im Guggenheim und im Pariser Louvre. Bei Anhörungen vor Gericht. Und bei Treffen von P.A.I.N. in Goldins Wohnung, wo den Aktivisten schmerzlich bewusst wird, dass sie von den Sacklers beschattet werden. Wobei Poitras auch den Beschatter filmt.
Nan Goldins Leben war immer bestimmt durch den Kampf gegen das Establishment
Zugleich aber nähert sich die Filmemacherin der Fotografin und zeichnet deren Leben nach, das immer schon eine Rebellion gegen das Establishment, ein Kampf gegen die Konventionen war. Zunächst war es eine Flucht aus der Engstirnigkeit ihrer Jugend. Goldins Schwester Barbara wurde, weil sie lesbisch war, für geisteskrank erklärt. Und warf sich, mit gerade mal 18 Jahren, vor den Zug. Für die kleine Schwester ein Trauma, zumal die Eltern die Wahrheit leugneten. Das war mit ein Grund, weshalb Nan Goldin zur Kamera griff: um die Wahrheit festzuhalten.
Sie floh in eine andere Welt, die schwullesbische Subkultur von New York. In Zeiten der sexuellen Unterdrückung versuchten ihre Freunde dort offen und mit Stolz ihr Leben zu leben. Goldin hielt das fest, nicht aus dem distanzierten Blick der Fotografin, sondern als eine von ihnen, ganz unmittelbar und zugetan.
Goldins Œuvre: ein steter Kampf gegen Konformität und Stigmatisierung
Das sei keine Fotografie, warfen ihr Galeristen und Künstler anfangs vor. Doch die Unangepasste wurde zu einem Star der Szene und schaffte so den Weg in die Galerien, wo sie zur Pionierin eines anderen, unverstellten, direkten Blicks wurde. Sie gab den Außenseitern und Ausgegrenzten eine Sichtbarkeit und eine bildliche Identität. Goldins Œuvre: ein steter Kampf gegen Konformität und Stigmatisierung, ein einziges Plädoyer für Selbstbestimmung.
Und dann gab es Mitte der 1980er-Jahre schon mal eine große Krise, in der die Künstlerin viele Freunde verlor. An Aids. Ein Virus, gegen das die Regierung Ronald Reagans damals nichts unternahm, während der Bischof von New York gar von der Strafe Gottes sprach. Auch da schon ging Goldin auf die Straße, bei den Act-up-Protesten, die auch ein Kulturkampf wurden. Wie 30 Jahre später der Feldzug gegen die Sacklers.
Der Film von Laura Poitras zeigt: Manchmal siegt doch das Gute
Wie der ausgehen würde, war zu Beginn der Dreharbeiten noch nicht absehbar. Um sich einer Sammelklage zu entziehen, meldete Purdue schließlich Konkurs an. Aber der Name Sackler verschwand aus den Museen, das immerhin haben die Aktivisten erreicht. Und in einer Videokonferenz mussten die drei Sackler-Geschwister sich anhören, was Betroffene erzählten über Menschen, die sie verloren haben. Auch das hat Poitras mitgefilmt. Allein diese Szene lohnt den Kinobesuch. Und zeigt: Manchmal siegt doch das Gute.
Es ist ein großer Vorzug, dass die heute 79-jährige Goldin ständig präsent ist in diesem Film, aber nie direkt in die Kamera spricht, sondern immer aus dem Off. Das machte sie wohl mutiger. Sie spricht nicht nur offen über ihre Medikamentensucht, sondern offenbart zum ersten Mal überhaupt, dass sie in jungen Jahren nur über die Runden kam, weil sie sich auch als Sexarbeiterin betätigt hat. Statt Goldin selbst sehen wir ihre Bilder, die zu einer Chronik der Gegenkultur wurden. Und hier zeigt sich, wie nah sich die Porträtierte und die Porträtierende sind: weil beide Dokumentaristinnen durch Bilder sind.
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Kino Hamburg: Aufrüttelnder Film hat persönlichen Hintergrund
Am Ende aber kommt Goldin, kommt der Film immer wieder auf die ältere Schwester und deren tragischen Tod zurück. Auf sie geht der Filmtitel zurück, ihr ist der Film gewidmet. Und sie, darauf beharrt die Künstlerin, sei der Antrieb für all ihr Schaffen. Ein starker, aufrüttelnder und sehr persönlicher Film, der eine gefeierte Künstlerin noch mal von einer ganz anderen Seite zeigt und Kunst auch als politisches Mittel feiert.
„All the Beauty and the Bloodshed“ 127 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im 3001, Abaton, Studio, Zeise