Hamburg. Die beiden Autoren-Buddys plaudern abermals in Buchform. Stuckrad-Barre denkt wieder schnell. Wäre da nur nicht seine Volldampf-Empathie.
Wenn Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter sich privat treffen, wird‘s irgendwann öffentlich. Bei denen hat das Plaudern Methode, könnte man sagen. Mit „Kein Grund, gleich so rumzuschreien“ erscheint der engagierte verbale Austausch der beiden Star-Autoren jetzt zum zweiten Mal als Buch. „Alle sind so ernst geworden“ war vor vier Jahren der Anfang und das für viele überraschende Coming-out dieses Freundschaftsbundes, tut der neue Aufguss nun not?
Da antworten wir überzeugt: Ja, ja, ja. Weil‘s rhetorisch wieder so schön perlt, gerade wenn der Stuckinator seine Assoziationsmaschine anwirft. Weil man auch so schön stöhnen kann über manches bei aller Originalität der Gedanken insgesamt doch so Erwartbare. Wie geht er, der gute, alte Stuckrad-Barre-Trick? Na, die Stereotypen quälen, unbedingt, immer wieder. Die Wirklichkeit auf permanente Wiedererkennbarkeit scannen. Besonders gern genommen wird da die Sprachkritik. Ein typischer Stuckrad-Satz lautet: „Wir Schmuddelhoodieträger zwischen Ende 20 und Haarausfall sagen dazu ‚nischig‘“. Was das „Dazu“ ist, ist fast egal. So oder so ist in diesem Satz alles drin, das angenommene „Wir“, die phänomenologische Beschreibung „Schmuddelhoodie“ und „Haarausfall“, die Sprachkunde („nischig“).
Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: Das Klischee als Klischee
Man findet das immer wieder amüsant, merkt aber schnell, es kommt auf die Dosis an. Stuckrad-Barres Gedankengirlanden baumeln immer über der Grundannahme: Ihr mit allen Instagramwassern und so gewaschenen Realitätschecker, ihr seht es und fühlt es wie ich. Dabei ist der Ennui, ist das Rumreiten auf dem Klischee, das ja selbst ein Klischee ist, doch auch deprimierend, nicht wahr?
Man mag‘s insgesamt aber doch, es ist halt auch niedrigschwelliges, offenherziges, geistreiches Geschwätz mit dem Selbstironie-Booster, insbesondere bei Stuckrad-Barre, der die Gesprächsrunden bisweilen energisch lenkt. Ob Suter sich manchmal ganz heimlich denkt, ich lass ihn jetzt einfach reden, Hauptsache, wir kriegen die Seiten voll? Kann sein. Aber er erfährt wie wir Lesenden manches über den andern, und umgekehrt.
Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: Verhasstes Aufwachsen im Pfarrhaus
Stuckrad-Barres Verwunderung darüber, dass sich Suter nicht die Haare färbt? Köstlich. Die allgemeinen Einlassungen über Eitelkeit (Suter: „Was, glaubst du, findet das Publikum eitler, deine Fabulierfreude oder meine einsilbige Meisterschaft?“) und Drogen? Nicht überraschend, das gilt auch für Stuckrad-Barres jetzt noch hochtourigere Auseinandersetzung mit seinem verhassten Aufwachsen im Pfarrhaus, kennt man alles. Auch Stuckrad-Barres Minderwertigkeitskomplexe und sein krankhaftes Körperbild sind nicht neu.
Aber es strömt eine Ernsthaftigkeit aus den Äußerungen, die gut in die gegenwärtige Zeit passt, wie man wohl so sagt. Religion und Jenseitigkeit, die letzten Dinge (Stucki: „Ich glaube an Popmusik, Kunst und Liebe, so würde ich sagen“) werden angesprochen. Der Highspeeddenker Stuckrad-Barre übertreibt es, denkt man irgendwann, mit der Unbefangenheit, wenn es um den Tod von Martin Suters Frau Margrith geht. Die Volldampf-Empathie ohne jegliche Zurückhaltung wirkt am Ende befreiend und gezwungen zugleich.
Margrith Nay Suter hat, erfährt man, quasi bis zum letzten Atemzug Billie Eilish gehört. Auch über den sehr frühen Tod von Suters Sohn Antonio wird an mehreren Stellen gesprochen. Es geht um Trauer (Stuckrad-Barre: „Weiterleben ist der Aufstand schlechthin“) und Bewältigungsstrategien, die natürlich nie so genannt werden dürfen.
Neues Buch von Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: „Tagtrinken ist das schönste Trinken“
Die öffentliche Figur Stuckrad-Barre mit ihren im literarischen Werk ausführlich behandelten Suchtproblemen erfährt in „Kein Grund, gleich so rumzuschreien“ kein Update. Aber wie die Selbstaustreibung aller Gefahren immer wieder verbal betrieben wird, (wie in der AA-Gruppe), verströmt eine eigene Faszination. „Sowieso habe ich Tagtrinken immer als das schönste Trinken empfunden“, erinnert sich Stuckrad-Barre, als der gewesene Champagner-Connaisseur Suter von seiner neuen Abstinenz berichtet. Bei einem Treffen im Restaurant Kronenhalle in Zürich (Snobs wie Suter und Stuckrad-Barre können sich das leisten) wird das Weingedeck gleich abgeräumt, als das Duo eintritt. Stuckrad-Barre, seit Jahren auf dem anstrengenden Weg der Nüchternheit: „Das ist eigentlich toll, wenn man irgendwo reinkommt, und sofort werden alle Betäubungsmittel weggeschlossen – also wenn die Bevölkerung mitdenkt.“
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Wie gehabt sind die persönlichen Parts die besten, und live wird das alles vortrefflich funktionieren. Der freundliche und auch außerhalb seiner Bücher knapp formulierende Martin Suter („Ich habe etwas mehr Zeit zum Genießen deiner Worte“) stört sich, sagt er zumindest, nicht am ausführlichen Vortrag des anderen. Allerdings dürfte er, wie jeder Leser, die Stirn sorgenvoll in Falten legen, wenn der seine Schwächen wie stets vor sich hertragende Stuckrad-Barre von seiner „Körperschemastörung“ erzählt.
Neuerdings trägt er die Haare etwas länger. Als er auf einer Insel im Südpazifik urlaubte, war er im Hotelbad von Spiegeln umstellt. Da nahm er dann seine Frisur wahr, auch von hinten, er dachte sich dann so: „Was steht denn da für ein unangenehmer Skinhead herum?“ Unangenehm ist an diesem Palaver-Bändchen wenig, nicht mal das ständige Übertreiben.
Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre sind am 20. Februar mit „Kein Grund, gleich so rumzuschreien“ in der Laeiszhalle zu Gast.
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