Sein Buch „Panikherz“ schrieb er in L.A., nun wohnt er im Hotel Atlantic: Benjamin von Stuckrad-Barre ist Udo Lindenberg ganz nahe.

Der Zug aus Berlin hat etwas Verspätung. Benjamin von Stuckrad-Barre steigt durchaus dynamisch die Treppe zur Wandelhalle hoch; jedenfalls hat man schon Leute gesehen, die sich die Zugsitzerei ächzender aus den Klamotten schütteln.

Ja, Hamburg, sagt Stuckrad-Barre. Dann bleibt er stehen und lässt das hier alles auf sich wirken. Auch die Geschäftsmeile des Hauptbahnhofs. Ob sie wirklich so anders aussieht als die in anderen Städten?

Wir treffen uns am Bahnhof der Stadt, die der herausragende Stilist, der Zeitungs- und TV-Journalist, der begnadete Deutschland-Reporter Benjamin von Stuckrad-Barre, 41, zum vorübergehenden Lebensmittelpunkt erkoren hat. Am Donnerstag erschien sein neues Buch „Panikherz“, in dem es um Herkunft geht, um Sucht, um das Fallen und um das Wieder-Aufstehen. „Fallen und Wieder-Aufstehen“, das würde Stuckrad-Barre nie so sagen. Zu klebrig, zu esoterisch. Aber einen Sinn für Pathos hat er doch, oder sagen wir: für die Inszenierung. Kurzfristig hat es noch geklappt mit einem Gespräch, der Mann ist derzeit in der Blase unterwegs. Fernsehauftritt bei „Lanz“, Interviews, Dauer-PR fürs Buch, es soll ja ein Erfolg werden.

Udo rettete Stuckrad-Barre in seinen „Schleuderjahren“

Stuckrad-Barres Idee, sein Pressemensch überbrachte sie freundlich: das Hamburggefühl gemeinsam erleben. Sein Hamburggefühl. Wie im Buch beschrieben. Dieses Hamburggefühl hat bei Stuckrad-Barre viel mit Udo Lindenberg zu tun, dem Musiker, der für Hamburg so etwas wie ein Maskottchen ist und für Stuckrad-Barre, wenn man das richtig verstanden hat, eine Mischung aus väterlichem Freund, Vorbild und Unterstützer. Lindenberg hat ihn einst gerettet aus dem Drogensumpf, befreit aus den „Schleuderjahren“, wie Stuckrad-Barre mit einem Wort Lindenbergs die Extrem-Epoche seiner Biografie nennt.

In „Panikherz“, jener Skizze eines lebenslauftechnisch irgendwie Verunglückten, die den vielfachen Wechsel der Wohn- und Aufenthaltsorte aufzeichnet, heißt es: „In mir jedenfalls haben Udos Lieder in meiner Kindheit eine tiefe, bis heute gültige Hamburgsehnsucht geweckt, die nur kurz mal pausierte und etwas eingetrübt war – nämlich in den drei Jahren, in denen ich dort wohnte. Erst seit meinem Wegzug von dort finde ich Hamburg wieder ganz toll, und immer, wenn ich am dortigen Hauptbahnhof ankomme und an der Schauspielhausseite rausgehe, meistens ja direkt zum Atlantic, dann ist das der einzige Ort in Deutschland, an dem ich ein ortsgebundenes Heimatgefühl empfinde.“

Stuckrad-Barre wohnt im Hotel Atlantic

Und so gehen wir dann los, im Tabakladen versorgt sich Stuckrad-Barre noch mit einer Stange Marlboro, die schnell im Handgepäck verschwindet, der Autor reist mit leichtem Proviant. Vorbei am Schauspielhaus, Stuckrad-Barre sagt: „Ich hatte eine Karte für Edgar Selges ,Unterwerfung‘ und konnte nicht hin, furchtbar, mein größter Fehler 2016 bislang, aber es war an dem Abend Udo-Videodreh, und Familie geht natürlich vor“ Ein paar Sätze zu Houellebecq, dann der nächste Punkt in Stuckrad-Barres persönlicher Hamburg-Kartografie, die entlang kultureller Koordinaten verläuft: der in der Tat großartige Schriftzug „die eigene GESCHICHTE“ an der Rückseite der Kunsthalle.

Kunst im öffentlichen Raum, für jeden Bahnfahrer zu sehen, Stuckrad-Barre findet es toll, „ich denke dabei immer an den Blumfeld-Song auf ,L’etat Et Moi‘ und mein erstes Hamburgjahr 1994“. Man hat Stuckrad-Barre („Soloalbum“) früher gerne einen „Popliteraten“ genannt. Wie alle anderen auch, die vor 15, 20 Jahren über einen hedonistischen Lifestyle schrieben, Oberflächenphänomene über alles andere setzten und die Namen von mindestens drei Popbands in ihren Romanen unterbrachten. „Hier, am Holzdamm, residierte Motor Music, wo ich ein Jahr gearbeitet habe, jetzt ist es – und mit ihm die Musikindustrie – weg und in Berlin oder im Internet, was ja dasselbe ist“, sagt Stuckrad-Barre.

Stuckrad-Barre, der Pet-Shop­Boys-Fan, hat ein Faible für die Form, er verweist jetzt auf den Atlantic-Schriftzug am Holzdamm, „er ist noch viel schöner als der vorne“.

Ein besorgniserregender Lebensstil

Dann sind wir drin und direkt im Raucherraum. Atlantic, Udo-Panik-Alster-Haus, Stuckrad-Barres derzeitiges Zuhause. Man könnte es eine Form von Lindenberg-Mimesis nennen: Nachgeahmt wird hier der Mythos des Unsteten, dem es durch eine ganz eigene Art der Permanent-Hotellerie gelingt, um profane Dinge wie Putzen und Aufräumen herumzukommen. Einerseits. Andererseits ist es ein Statement, an einem Ort des Transits einen Pflock des Dableibens einzuhauen. Im Raucherschränkchen des Atlantic liegen nun auch Packungen von Stuckrad-Barres Zigarettenmarke.

Er sagt: „Man kann von Udo auch viel lernen, wenn es um Verhandlungen für Übernachtungskosten bei einem längeren Hotel-Aufenthalt geht. Wobei das Ziel eigentlich ist, dafür bezahlt zu werden, da zu wohnen.“

Der Kellner bringt Wasser und Ingwer-Tee. Stuckrad-Barre trinkt seit langem keinen Alkohol mehr. Über seine jahrelange Kokain-Sucht und zwanghafte Ess-Störung schreibt er in „Panikherz“, es ist ein brillant-verstörender Bußgang, in dem Stuckrad-Barre von den Sünderjahren erzählt, von Rausch und Ruhm, jämmerlichen Kotz-Exerzitien auf der Toilette und dem permanenten Druff-Sein. Es sind Jahre, in denen Stuckrad-Barre daran arbeitet, sich selbst abzuschaffen – „Panikherz“ ist das bemerkenswerte Zeugnis der Entblößung eines ziemlich besorgniserregenden Lebensstils. Und es bleibt nicht aus, dass man als Leser eine voyeuristische Haltung einnimmt; dass man der überdrehten Existenzangst des sowohl Egozentrik-begabten als auch beobachtungsteilnehmenden Autors den manchmal eher unwohligen Schauer des solide auf seine Gesundheit achtenden Bürgers entgegensetzt.

Stuckrad-Barre spricht nicht gerne über sich, wenn er von Journalisten befragt wird. Er tut das mit einigem Recht, denn es steht (fast) alles in seinem Buch. Manchmal sagt er dann in seinen rhetorischen Ausweichmanövern banale Sätze, die zum Beispiel seine Eitelkeit betreffen, er würde sie so wahrscheinlich nie schreiben. Wenn das nicht mehr hilft, kommt der gebürtige Bremer, der in Rotenburg und Göttingen aufwuchs, immer wieder auf Lindenberg zu sprechen, auf gemeinsame Silvesterfeiern oder die „Panik-Gang“ und ihre Charaktere.

Ein Rettungsanker, selbst wenn nur die Fragen nerven: Man sollte Lindenberg wahrscheinlich unbedingt selbst zum Freund haben.

Eine Hochphase in Stuckrad-Barres Leben

Vielleicht schafft man es dann ja auch einmal nach Los Angeles, wohin Stuckrad-Barre vergangenes Jahr floh. Er konnte nach der Geburt des Sohnes nicht mehr arbeiten, so durfte man es jetzt lesen. Lindenberg nahm ihn mit nach Kalifornien, quartierte ihn in einem Hotel am Sunset Boulevard ein, und dann erfand der getriebene Geist Stuckrad-Barre sich neu. Die Geburt des Autors aus der Lebenskrise, eine alte Geschichte.

Er raucht wirklich eine Zigarette nach der anderen, und dass es Menthol-Zigaretten sind, ist nur folgerichtig. Kühlung für einen Unruhe-geplagten Geist, denkt man, leicht abgeschmackt. Es ist jetzt eine Hochphase in Stuckrad-Barres Leben. Er bekommt Aufmerksamkeit, am Montag liest er in der ausverkauften Markthalle mit seinen Gästen Sven Regener und Christian Ulmen. „Es wäre kein gutes Konzept, aus Angst vor den Tiefs, die statistisch unweigerlich folgen, auf die Hochs zu verzichten“, sagt er.

Er habe Psychologisierungen vermeiden wollen im Buch, erklärt er außerdem; und um jeden Zweifel auszuräumen, dass man mit Freud nicht weiter kommt, wenn Biografien Brüche bekommen, sagt Stuckrad-Barre den Satz: „Ich habe wunderbare Eltern.“

„Meine Eltern sind vor allem froh, dass ich überlebt habe“

Er hofft, dass ihnen das Buch gefällt; „sie sind natürlich vor allem froh, dass ich überlebt habe – literaturkritisch also ein eher subjektiver Zugang.“ Auf seiner Lesereise will Stuckrad-Barre alle Stimmungen und Tonfarben des Buchs berücksichtigen. Wobei die heiteren Passagen überwiegen, „sonst ist das anstrengend für alle, auch für mich“.

Wenn Stuckrad-Barre da steht, wo das Licht ist, liefert er meist eine gute Show. Aber von „Panikherz“ bleibt etwas anderes, Grundsätzlicheres. Für Stuckrad-Barre ist es die Ahnung, „wie das so geht mit dem Leben, wie es klappen kann oder auch nicht“.

Wenn er einschlafen will, nimmt er zwei unterschiedliche Schlaftabletten und legt Hörbücher von Thomas Bernhard auf. Und wenn die Unruhe zu groß wird, läuft er nachts eine Runde mit Lindenberg um die Alster. Schenkt man Stuckrad-Barre Glauben, dann hat Lindenberg dabei manchmal eine Zigarre im Mund. Stuckrad-Barres aktueller Lieblingssong stammt übrigens vom neuen Pet-Shop-Boys-Album.

Er heißt „Happiness“.