Hamburg. Als die Tochter heiratet, treffen ihre seit Langem getrennten Eltern wieder aufeinander. Er mit Katze, sie ohne. Köstlich und tröstlich.
Wissen Sie, woran man eine gute Autorin oder einen guten Autor erkennt? Genau: ihr oder sein Text fesselt, ist überzeugend in Inhalt und Form. Wir wollen an dieser Stelle spezifizieren und sagen, dass eine gute Autorin sich besonders dann als eine solche zu erkennen gibt, wenn sie das Profane des Alltags in eine besondere Lektüreerfahrung umzumünzen vermag. Die amerikanische Pulitzer-Preisträgerin Anne Tyler ist die Meisterin aller literarischen Alltagsklassen. Man kann sie mit Elizabeth Strout vergleichen, sagen wir: Sie ist die Elizabeth Strout mit dem speziellen Kitsch-Touch, den man keineswegs kritisieren muss.
Das haben ein paar strenge Leser gerne mal getan, und sie dürften es auch anlässlich Tylers neuem Roman „Drei Tage im Juni“ tun. Ein kleiner Spoiler also: Man geht aus diesem Buch der Abschiede nicht traurig heraus. Und man sollte wissen, dass die Kritiker der 1941 geborenen Anne Tyler immer in der Minderzahl waren. Groß dagegen ist die Zahl von Tylers Fans, nicht zuletzt unter Autorenkolleginnen und -kollegen.
Neues Buch von Anne Tyler: Bei ihr darf auch eine Katze auftreten
Anne Tyler darf also alles. Sie darf in ihrem neuen Buch sogar mit einer Katze eine der nervigsten, dauerpräsenten Sozialfiguren der Gegenwart auftreten lassen – die Katze als soziales Wesen, aber sicher – und dabei erzählerische Pluspunkte sammeln. Es ist der Lehrer Max, der das namenlose Tier aus dem Hausstand einer Verstorbenen einfach mal mitgebracht hat. Eigentlich sollte und wollte der im zwischenmenschlichen Umgang eher unempfindliche Endfünfziger bei seiner Tochter Debbie nächtigen. Die heiratet zufällig, und sie führt dabei ihre beiden seit Langem geschiedenen Eltern wieder zusammen.
Max schlägt mit dem Tier, dessen Rolle Tyler inhaltlich exakt definiert (am Ende dieser Wiederannäherungsstory wird sie endlich einen Namen tragen), dann bei seiner Ex Gail auf. Ist praktischer so, denn Debbies zukünftiger Ehemann Kenneth hat eine Katzenhaarallergie. Die beiden Oldies gehen gar nicht mal so zart miteinander um, aber es ist doch viel Vertrautheit da. Er weiß, was für ein Kommunikationsdesaster sie ist: „Du pickst dir etwas heraus, was ich gesagt habe, und interpretierst es völlig falsch. Mit dir kann man einfach nicht vernünftig reden.“
„Drei Tage im Juni“, der neue Roman Anne Tylers: Die Vibes sind immer positiv
„Drei Tage im Juni“ – der Tag vor der Hochzeit, der Tag der Hochzeit, der Tag nach der Hochzeit – ist, auf engem Raum (knapp 200 Seiten), ein Eheroman. Und ein Roman über den „schönsten Tag im Leben“. Bissig aufgeschrieben und so, dass man die Sentimentalität, die dennoch gut versteckte, immer mitliest. Die Tyler-Vibes sind stets positiv. Weshalb man sich als Leser kaum Sorgen macht, als am Tag vorm Fest mit Brachialgewalt die Frage in den Raum prescht, ob Kenneth Debbie nicht kurz vor der Hochzeit betrogen hat.
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In einer dialoggesättigten Handlung konfrontiert die Autorin ihre Figuren mit ihrer Vergangenheit, dem eigenen Gewordensein, mit ihren Niederlagen und dem Sieg, Eltern einer geliebten Tochter zu sein. Man muss sich gar nicht unbedingt entscheiden, wen man lieber mag: den distanzlosen Max (Riesentyp) oder die kühle Gail (interessant), die gleich im ersten Kapitel von ihrer Chefin attestiert bekommt, keine Sozialkompetenz zu haben. Man ahnt an dieser Stelle schon, dass man es im Fortgang der Handlung mit leisem Humor (okay, der Auftritt des früheren Lebenspartners von Gail ist laut, aber: passt schon) und exakt den sozialen Dynamiken zu tun bekommt, die auftreten, wenn Menschen sich entweder gut oder gar nicht kennen oder beides zugleich.
Die federleichte Erzählerin Anne Tyler legt mit „Drei Tage im Juni“ ein weises Buch über vor langer Zeit geschlossene Verbindungen vor, die ihre Festigkeit nie ganz verloren haben. Ein alter Schmerz kann von neuer Hoffnung übertrumpft werden, und Katzenhaare sind gar nicht so schlimm. Die Jüngeren sind außerdem nicht besser als die Älteren, das Drama des fehlerhaften Menschseins wiederholt sich immer wieder. Wenige schreiben so frohgemut darüber wie die große Erzählerin Anne Tyler. Einsam ist man nie, wenn man eines ihrer Bücher liest. „Drei Tage im Juni“ ist der schmalste Roman-Hit der Saison.
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