Hamburg. Der Starautor holte endlich seine 2023 verschobene Lesung im St. Pauli Theater nach. Die Reeperbahn rief spezielle Erinnerungen wach.

Man weiß von diesem schweizerischen Bestsellerautor, dass er Vollprofi ist. Ein Schriftsteller mit großem Publikum, das St. Pauli Theater war wenig überraschend ausverkauft. Seine Fans – Martin Suter gehört zu dem vielleicht einem Dutzend Autorinnen und Autoren, die tatsächlich Fans haben – wussten, dass sie einen Literaturstar mit Bühnenlust bekommen.

Was sie nicht unbedingt wissen konnten, offenbarte sich ihnen recht schnell: Der schicke und geschniegelte Martin Suter, der so seriös wirkt, wie nur wohlhabende Schweizer seriös wirken können, hatte sich entschieden, an diesem Donnerstagabend eine bestechend frivol-neckische Laune zur Schau zu tragen.

Ob er geplant hatte, der Inszenierung der eigenen Person diese womöglich für die meisten ungewohnte Note zu geben? Nicht sicher. Könnte sein, dass Moderatorin Bettina Rust, mit der er sich am Vorabend in Berlin eingegroovt hatte, den entscheidenden Impuls gab. Rust, seit Langem Hauptstädterin, hat auch mal zehn Jahre in Hamburg gelebt. Als junge Frau lernte sie die Reeperbahn kennen, tolle Zeiten. Die autobiografische Retrospektive verleitete die Journalistin zur sprachlich schlüpfrigen Investigativfrage an die Hauptperson des Abends. Ob Martin Suter denn auch mal „eine Affäre mit Hamburg“ gehabt habe?

Martin Suter in Hamburg: Im Etablissement saß eine Dame auf seinem Schoß

Hoppla! Da fühlte sich Suter, der sich rhetorisch („Ich antworte langsam, ich bin Schweizer“) publikumswirksam noch auf zunächst erwartbarem, oft erprobtem Terrain bewegt hatte, dann doch ein wenig herausgefordert. Und zwar so sehr, dass Rust vielleicht nicht nur gespielt, die Wortwahl bei ihrer lokalen Initiative im Nachhinein („Ich dachte, du würdest vom Hafen reden und dass er viel toller als die Berge ist“) bereute.

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Suter, der eigentlich gekommen war, um seinen mysteriösen, aber auch schwer romantischen Bestseller „Melody“ vorzustellen, erzählte nämlich über Umwege davon, wie ihm tatsächlich vor vielen, vielen Jahren, als er noch Werber und Reisejournalist war, einmal eine Stripperin auf St. Pauli seinen schönen weißen Anzug versaute. Man hatte ihn, den beruflichen Hamburg-Gast, wohl irgendwie in ein Etablissement geschleppt, was damit endete, dass eine der sich dort verdingenden Dienstleisterinnen sich irgendwann auf seinem Schoß sitzend bei ihm ausweinte. Sie werde als „Sklavin“ gehalten. Nun, retten konnte Suter weder sie noch den feinen Zwirn. Am nächsten Morgen saß er seinen Schilderungen zufolge im Transkontinentalflieger, roch nach billigem Parfüm und hatte die Schminke der vorabendlichen Bekanntschaft großflächig auf dem Jackett.

Martin Suter in Hamburg: Nachholtermin der 2023 ausgefallenen Lesung

Während der 76-Jährige selbstironisch, aber altersmilde bei den Erinnerungen an die jüngere Version seiner selbst ein Lachen nicht unterdrücken konnte, ging bei Moderatorin Rust dann doch ansatzweise die Alarmanlage an. Ausgebeutete Frauen, „eigentlich auch eine traurige Geschichte“, kommentierte sie das Suter-Histörchen von ganz früher. Damit lag sie natürlich richtig. Richtig und rund war der Abend im St. Pauli Theater aber insgesamt trotzdem. Und zwar gerade deswegen, weil die Dynamik auf der Bühne doch ziemlich gut war.

Martin Suter las in Hamburg aus „Melody“ und seinem neuen „Allmen“-Roman.
Martin Suter las in Hamburg aus „Melody“ und seinem neuen „Allmen“-Roman. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Der Ausfall der Veranstaltung vor einem Jahr – die Lesereise jetzt besteht ausschließlich aus Nachholterminen – war dem Tod von Suters Frau Margrith Nay Suter geschuldet. Ein Thema, das der Abend lediglich streifte. Suter berichtete von einer Art Zaubermaschine, die seine Handschrift augenblicklich in Druckbuchstaben auf dem Bildschirm verwandeln könne. Mit der habe er, als seine Frau schon sehr krank war, in Wartezimmern und Kliniken gesessen, um an einem Manuskript zu arbeiten.

Das wird wohl der neue Krimi „Allmen und Herr Weynfeldt“ gewesen sein, gerade erst erschienen. Suter las in Hamburg auch aus diesem und spielte darüber hinaus die Rolle perfekt, die ihm am besten steht: die des irrsinnig lässigen, trockenen Wenn-es-drauf-ankommt-Schnösel-Schweizers, der im „Großen Kanton“ gerade noch so charmant Nadelstiche zu setzen vermag.

Martin Suter: Einmal erlaubte er sich eine kleine helvetische Bösartigkeit

So verteidigte er beharrlich in der Tat sprachlich überzeugende Helvetismen („Man verabredet sich auf 8 Uhr, nicht um 8“) gegen die in dieser Sache gedanklich anscheinend, nun ja, langsamere Rust. Was die seinen Leuten nachgesagte Gemächlichkeit („Anders als Deutsche denken wir, bevor wir sprechen“) angeht, erlaubte sich Suter übrigens eine kleine Bösartigkeit; er weiß, dass er nicht nur mit seinen immer Plot-getriebenen, nie zögerlichen Büchern sein Publikum unterhalten muss. Da kann man auch mal piesacken, nicht zuletzt die Moderatorin.

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Es war unbedingt ein Abend der Marke schnittig; wenn überhaupt, dann von der Suter-Stange, also qualitativ und sehr lohnenswert. Im Frotzel-Feuer fühlte sich der seine Worte gleichwohl immer abwägende Autor einmal genötigt, verbal eine negative Dopingprobe („Ich bin übrigens nüchtern“) abzugeben. Rust sprach mit ihm, dem seit zwei Jahren abstinent Lebenden, auch über die klassischen Sujets Schreiben und Erfolg. Über Geld. Suter findet, dass wohlhabende Menschen wie er auch viel ausgeben müssen, „auf dem Geld zu hocken, finde ich peinlich“. Das muss unbedingt unter dem Terminus „erfrischende Ehrlichkeit“ laufen. Wo man da wieder beim ersten, dem St.-Pauli-Kapitel des Abends wäre. Das mit dem Kiez-Besuch habe jetzt anscheinend mal rausgemusst, hatte Suter da schon gesagt.

Die Halbwelt ist Vergangenheit, die Hochkultur die Zukunft. Er habe immer noch den Traum, eine Oper zu machen, teilte Suter dem Publikum mit. Er sitze schon dran. Die Geschichte einer alternden Frau, die ihren Geburtstag nicht feiern will? Klingt nach Alterswerk. Nach anderthalb Stunden ging Suter fröhlich und, wenn nicht alles täuschte, dankbar von der Bühne. Die Menschen applaudierten ihm laut.