Hamburg. Martin Suters und Benjamin von Stuckrad-Barres Gesprächsband „Alle sind so ernst geworden“ vereint Eloquenz und manischen Witzelzwang.
Huch, die kennen sich. Erste Reaktion. Zweite: Warum auch nicht. Im Grand Hotel in Heiligendamm lief man sich über den Weg. In Badehose. Der eine trug sie neonfarben, der andere türkisfarben mit Palmen und Flamingos. Schreiender Kontrast zum Buchcover. Dort sind zwei Styler zu sehen in teuren Anzügen. Einer trägt Krawatte, beide sind durchdrungen von jener Eitelkeit, die ihnen am Pool demonstrativ fehlte.
In Heiligendamm also lernten sich die beiden Schriftsteller Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre kennen. Stuckrad-Barre, 45 Jahre alt und längst dem sogenannten Popliteratursegment entwachsen (eigentlich), stellte, so lernt man beim Googeln, in ebenjenem Heiligendamm Suter dann auch Till Lindemann vor. Vielleicht war es auch umgekehrt. Vielleicht traf jeder jeden völlig unabhängig voneinander.
Suter, der Schweizer Typ
Egal: Auf einem Foto posieren der Rammstein-Grobgeist Lindemann und der feingliedrige Schweizer Suter jedenfalls, noch so ein, siehe Badehose versus Anzug, scharfschnittiger Unterschied. These: Den 72-jährigen Suter und Stuckrad-Barre unterscheidet mehr als eine Generation, sie sind auch sonst weit, weit auseinander. Suter ist, sagen wir, eher Dagobert. Wer ihn nicht kennt: ein Indie-Songwriter aus Berlin.
Gut, Suter („Elefant“, „Small World“) ist alles andere als Indie, sondern ein Literaturblockbuster. Allererste Bestsellerliga. Ein zurückhaltender, großbürgerlich anmutender, diskreter Mann, der Schweizer Typ eben. Dagobert ist auch Schweizer, wahrscheinlich deshalb der allzu naheliegende Vergleich. Stuckrad-Barre dagegen ist Lindemann. Stuckrad-Barre („Soloalbum“, „Panikherz“) ist laut, das personifizierte rhetorische Wumms. Eine Rampensau.
Manche der Texte erschienen zunächst als Podcast
„Alle sind so ernst geworden“ heißt das überraschende Buch von Suter und Stuckrad-Barre, es erscheint sehr rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft und ist das Gesprächsprotokoll etlicher Plaudersitzungen der beiden Kollegen und Freunde. Man ist wohl recht schnell nach dem Badehosen-Meeting – es stellt quasi das erste Kapitel des nach eher lockeren dramaturgischen Gesichtspunkten zusammengestellten Powerpalavers dar – übereingekommen, das Aufnahmegerät anzuschalten. Wobei diesbezüglich die Sache mit dem „überraschend“ noch zu klären ist: Suter-Fans kannten dessen Stuckrad-Barre-Aktivitäten. Etliche der im Band versammelten Gespräche waren auf seiner Homepage als Podcast zu finden. Für die Buchveröffentlichung wurden sie von den Autoren überarbeitet.
Man ist geneigt, diese Retuschen einer Überprüfung zu unterziehen, unterlässt es aber. In „Alle sind so ernst geworden“ sprechen Suter und Stuckrad-Barre über ausgesuchte Themen, die das Feld der Subthemen, Abschweifungen und Assoziationsketten zielgerichtet begünstigen. Also: „Badehosen“, „Äähm“, „Hochzeiten“, „Rechnungen“, „Kochen“ als Überschriften, und darunter platziert dann der Dauermäander um die Essenz des Lebens, um Freundschaft, Schreiben, Erfolg, Liebe, aber auch der nur kurz aufblitzende Exkurs auf Helmut Kohls Strickjacken, den PEN-Club oder Dieter Bohlen. Wobei derlei Entitäten immer mit maximaler Spottabsicht von Stuckrad-Barre aufgerufen werden.
Schnelldenkanfälle und Neuronenfeuerwerke
Stuckrad-Barres Formulierungs- und Verknüpfungsfuror ist mindestens atemberaubend, wenn nicht unglaubhaft. Zur eigenen Entlastung und zur Ausschaltung des Genieverdachts hofft man mal, dass gedankliche Notizen vor der Gesprächsaufnahme eine Rolle gespielt haben. Schnelldenkanfälle und Neuronenfeuerwerke zündet Stuckrad-Barre aber fraglos: „Alle sind so ernst geworden“ ist ein vollendetes Ensemble der Schlagfertigkeit.
Und so liest man und staunt ob der Schwafelgrandezza besonders des einen, schätzt derweil, als notwendige Ausbalancierung, auch die oft abwartende Dialogstrategie des anderen. Man meint die Temperamente beim Lesen dieser freudvollen aus zwei Richtungen betriebenen Denk-Sprech-Bewegung leicht ausmachen zu können: Stuckrad-Barres Fast-forward-Exaltiertheit hier, Suters Habitus der Schweiz-Gemächlichkeit dort. Apropos, eine von manchen schönen Stellen in diesem Buch ist die, in der der Mundharmonikaspieler und Songtexter Suter eine seiner Schwyzerdütsch-Lyrics vorliest. Und Stuckrad-Barre einfach mal schweigt, das muss man anfügen.
Harmonisches Pingpongspiel mit Worten
Denn manchmal ist die Unwucht dieses inhaltlich nahezu immer harmonischen Pingpongspiels mit Worten und Sätzen zu deutlich. Sprich: Der Forschere der beiden reizt die Möglichkeiten, die sich ihm hier bieten, mit seiner verbalen Hibbeligkeit voll aus. Eventueller Kritik beugt er vor, indem er seine ständigen Einschübe, die Suter stoisch zur Kenntnis nimmt, mit seinem „Witzelzwang“ erklärt, erlernt in seinem Jahr als einer von Harald Schmidts Gagschreibern.
Weil Stuckrad-Barres Einzeiler nicht selten gut sind, vermisst man den smarten Unernst der Late-Night-Shows aber fast. Stuckrad-Barres Selbstironie („Auf Fotos schiebe ich oft den Mund nach vorne, als sei ich eine debile Ente“) lässt man sich gerne gefallen, aber der Klischeeekel, ein Standard in seinen Texten, ist schon lange enervierend, vor allem vorhersehbar. Die arrogante Abseitshaltung, die nur das Ziel hat, der unweigerlichen und durch das Sagen des Immergleichen perpetuierten Langeweile des Seins lautstark und zunehmend verzweifelt zu entfliehen, kann auch ermüden.
Suter lässt Stuckrad-Barre oft einfach machen
Wobei das allzu forsche Angewidertsein doch auch ganz herrliche Respektlosigkeiten evoziert. Beim Tagesordnungspunkt Religion redet sich der in Rotenburg an der Wümme aufgewachsene Pastorensohn geradezu in Rage, die anti-protestantische Predigt mündet in dem hammerharten Satz: „Es standen permanent irgendwelche jammernden Christen bei uns im Treppenhaus.“
Während Suter den Jüngeren oft einfach machen lässt, die Gelassenheit des Alters ausspielt oder eben einfach angesichts dessen Wortgewandtheit die Segel streicht, nutzt Stuckrad-Barre den Motor der Egozentrik, um das Gespräch voranzutreiben. Als Suter, der ehemalige Werber, sein ewiges Abgestoßensein von den Redeflashs der Kokainisten rekapituliert, nimmt sich Stuckrad-Barre („Aber du weißt, dass ich hier nüchtern sitze“) vorsichtshalber selbst auf die Schippe und pflegt auch darüber hinaus in einer Mischung, so kommt’s einem jedenfalls vor, aus Sündenstolz und Eigen-PR das in seinem stärksten Buch „Panikherz“ etablierte Ich-habe-Übles-erlebt-und-bin-davongekommen-, das Abstinenz-Narrativ.
„Tristesse Royale“ war 1999 ein anderes Kaliber
Ja, man delektiert sich oft an diesem mal bemüht geistreichen, mal aus dem Ärmel geschüttelten Dialog. Wo Martin Suter feststellt, dass „das konzeptionslose Gelaber“ kennzeichnend für ihrer beider Freundschaft sei, spricht Stuckrad-Barre vom „antiehrgeizigen Gerede unter Freunden“, was eine erstaunliche Behauptung ist. Wem will Stuckrad-Barre ernsthaft erzählen, er wolle mit seinem verbalen, wirklich auch oft treffsicher-komischen Schnellschussverfahren nicht renommieren?
Als Fundgrube für Geburtstagsgrußschreiber in den Feuilletons ist dieses an den besten Stellen persönlich werdende Buch übrigens wunderbar geeignet. Darüber hinaus ist „Alle sind so ernst geworden“ forciert auf zeitlos getrimmt. Das kann man als Stärke empfinden, besonders, weil hier nicht über ein Thema der Allgegenwart namens Corona räsoniert wird. Spätestens beim Kapitel „Ibiza“ – die spanische Insel ist jetzt eine Metapher für österreichische Peinlichkeiten, nicht mehr für mitteleuropäische Sonnensehnsüchte –, das den Politskandal auslässt, befällt einen das Gefühl, das in diesem Buch etwas Entscheidendes fehlt: das durchaus von der jüngeren Vergangenheit gefütterte, den Zeitgeist abbildende, hinterfragende und definierende Heute.
Als sich Benjamin von Stuckrad-Barre 1999 mit vier anderen Autoren, unter ihnen Christian Kracht, zum „Popkulturellen Quintett“ zusammenfand und dessen im Hotel Adlon entstandene gesprächsmäßige Schnösel-Ennui-Inszenierung in den glorreichen Band „Tristesse Royale“ mündete, war das ein Zeitgeist-Wirkungstreffer. Davon ist „Alle sind so ernst geworden“ weit entfernt.