Hamburg. Wohnst du noch oder liest du schon? Isabel Bogdans „Wohnverwandtschaften“ und Till Raethers „Drinnen“ sind lebensnah und grundverschieden.

Das große schwedische Möbelhaus, dessen Name einem der Protagonisten in Isabel Bogdans neuem Roman irgendwann nicht mehr einfallen will, wirbt mit einem eingängigen Werbespruch: Wohnst du noch oder lebst du schon? Dabei ist der scheinbare Gegensatz zwar catchy, aber natürlich grundfalsch. „Wohnen ist die unmittelbarste, alltäglichste und konkreteste Art zu leben“, schreibt der Hamburger Autor Till Raether. Beide, Bogdan und Raether, haben den literarischen Herbst, den man schon aus Witterungsgründen häufiger innerhalb der eigenen vier Wände verbringt, gerade um ganz unterschiedliche Bücher über das Wohnen bereichert.

Buchcover Till Raether, drinnen
Till Raether: „Drinnen“, erschienen bei Arche, 192 Seiten, 18 Euro © Arche | Arche

„Drinnen“ (Arche, 192 Seiten, 18 Euro) heißt Raethers plauderig-unterhaltsame Kolumnensammlung folgerichtig, „Vom Einziehen und Ankommen“, so der pragmatische Untertitel. „Wohnverwandtschaften“ (Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 24 Euro) hat Isabel Bogdan ihren Roman genannt, es ist ihr dritter nach dem Bestseller „Der Pfau“ und dem ebenfalls verfilmten „Laufen“. In „Drinnen“ gibt es neben einem Plädoyer für das Stoßlüften („Lüften ist das Ausatmen der Wohnung“) und der Erinnerung daran, dass jedes Wohnen auch ein Kompromiss ist („wie wir leben wollen und wie wir leben können“), auch die Erkenntnis, dass es „wirklich kaum etwas Schöneres“ gibt „als sicher an der Wand befestigte Bücherregale“. In denen man also schonmal Platz schaffen könnte für diese beiden Neuzugänge.

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Was leicht gesagt ist. Neuzugänge machen das Wohnen kompliziert. Oder interessant. Je nach Perspektive. Und je nach Art. Kommen die Neuzugänge aus der Abteilung Krimskrams, neigen sie dazu, sich an den unmöglichsten Orten auszubreiten. Kommen sie aus der Abteilung Mensch – ja, dann auch. Heißt ja nicht, dass man sie nicht trotzdem liebgewinnt.

So wie Constanze, 34, Zahnärztin, frisch getrennt, die in Bogdans „Wohnverwandtschaften“ eigentlich nur übergangsweise in eine Hamburger WG einzieht. Zu Murat, dem kontaktfreudigen Positivisten, „zuverlässiger In-den-Arm-Nehmer, zuverlässiger Suppe-Kocher“. Zu Anke, der gescheiterten Schauspielerin. Und zu Jörg, dem Wohnungsbesitzer. Jörg ist älter als die anderen, wenn auch noch nicht so alt, dass er tüddelig werden müsste. Aber sein Zustand verändert sich nach einer Operation, und mit ihm auch der Fokus des Romans.

Buchcover Wohnverwandtschaften von Isabel Bogdan
Isabel Bogdan: „Wohnverwandtschaften“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 24 Euro. © Kiepenheuer & Witsch | Kiepenheuer & Witsch

Denn „Wohnverwandtschaften“ ist nicht vornehmlich eine Auseinandersetzung mit der Lebensform Wohngemeinschaft (obwohl es dazu wirklich aparte Beobachtungen gibt, die Dynamiken innerhalb des Quartetts, die kleinen Eifersüchteleien, die Partygetränke in der WG-Badewanne), es ist auch ein feiner, ausgesprochen menschenfreundlicher Roman über eines der großen Themen, mit denen eine überalterte Gesellschaft zwangsläufig stärker denn je konfrontiert ist: Demenz.

Isabel Bogdan: „Lese nicht gern Bücher, bei denen ich das Gefühl bekomme, die Autorin konnte ihre Figuren nicht leiden“

Wobei insbesondere die Form ungewöhnlich ist. Bogdan zeichnet ihre Figuren durch innere Monologe und Dialog-Kapitel mit Regieanweisungen, ganz kurze Miniaturen sind das bisweilen. Die Charaktere entstehen durch ihre jeweilige Wortwahl und setzen sich zusammen aus der Innensicht und den Gedanken der anderen, jede und jeder mit einer eigenen Textfarbe, einem speziellen Sound (wobei die Autorin dankenswerterweise der Versuchung widersteht, überorginell zu sein.)

Pressefoto Isabel Bogdan
Mit „Der Pfau“ landete Isabel Bogdan 2016 einen Überraschungsbestseller. © Heike Blenk | Heike Blenk

Sie selbst lese nicht gern Bücher, bei denen sie „das Gefühl bekomme, die Autorin konnte ihre Figuren nicht leiden“, erzählte Bogdan bei der Hamburger Buchpremiere im Literaturhaus. Die Lektüre ihrer „Wohnverwandtschaften“ bestätigt das. Das Buch nutzt die Verdichtung des Raums, ist aber kein böses WG-Kammerspiel, keine bissige Abhandlung über knappen Wohnraum in Großstädten, auch kein Plädoyer für alternative Lebensmodelle. Obwohl – letzteres schwingt mit. Unbedingt ist das Ensemble-Stück die Einladung an den Leser, die Leserin, der fünfte Mitbewohner dieser zusammengewürfelten Bande zu sein.

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Dabei zu sein beim missratenen Casting mit Arschloch-Regisseur, nach dem Männerfußball in der Kabine (sehr charmante Szene!), und in der zunehmend lückenhaften Gedankenwelt von Jörg. Denn auch der, ein Witwer und ehemaliger Journalist, der eben noch einen Roadtrip mit Bulli plante, spricht in der Ich-Perspektive. Oder spricht nicht mehr, wenn ihm, dem Eloquenten, die einfachsten Vokabeln ausgehen: Ikea. Pumuckl. Kaffee. „Wo sind sie hin, meine Wörter, das Wörterbuch in meinem Kopf ist kaputt.“ Wie die Welt kleiner wird, wenn das geschieht, wie aber auch die Zweckgemeinschaft zur Wahlfamilie werden kann und die Figuren einander Halt geben, das schildert Isabel Bogdan sehr zugewandt und sehr alltagstauglich. Manchmal traurig, manchmal ganz schön lustig.

Es gebe Menschen, die ein bewundernswertes Talent zum Wohnen haben, findet Till Raether. „Es ist eine richtige Begabung, wie pfeifen können oder immer die richtigen Worte finden.“ Die richtigen Worte finden diese beiden Bücher, jedes auf seine Art. Man kann sie bedenkenlos bei sich einziehen lassen.

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