Hamburg. Lohnenswerte Lektüre: der Beziehungs-, Katastrophen- und West-Berlin-Roman des Hamburger Autors Till Raether.
Der Regen ist das Schlimmste. Bloß nicht nass werden. Bloß die Kinder nicht im Sandkasten spielen lassen. (Wenn man denn welche hätte.) Keine Pilze essen, keine frische Milch trinken, „und wer wusste denn, woher die Koteletts kamen“.
Auch wenn die Einschränkungen und Verbote andere sind – die Parallelen sind verblüffend. Eine Pandemie heute, ein Reaktorunfall damals. Die Angst zieht ein in den Alltag – oder die Gleichgültigkeit oder die witzelnde Überheblichkeit, je nach emotionaler Verfassung. Im Frühjahr 1986 vermelden die Nachrichten Becquerel, Cäsium-Konzentrationen und den Stand „der Wolke“ mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie heute, 2021, Inzidenzzahlen herunterrattern.
„Treue Seelen“ ist ein Katastrophenroman
Wegen „Tschernobbl“, wie man so sagte in dieser immer leicht piefigen 80er-Jahre-Weltläufigkeit. Obwohl Barbara schon damals „fand, das hieß Tschernobühl, aber sie musste zugeben, dass seins harmloser klang und so, als wäre es schneller vorbei und man könnte es bald wieder vergessen“.
Zu vergessen oder vielmehr: zu verdrängen gibt es so einiges in Till Raethers neuem Roman, „Treue Seelen“, seinem ersten, übrigens, der keine Kriminalgeschichte erzählt. „Am besten, man rührte nicht an die Dinge“, hat Barbara festgestellt und wendet diese Taktik nicht nur auf Amalgam und Asbest, sondern auch auf ihre Beziehung zu Achim an. „Treue Seelen“ ist ein Katastrophenroman.
Permanente Bedrohung
Was, wenn man es so benennt, natürlich auf die falsche Fährte führt. Die eigentlichen Katastrophen nämlich passieren (ist das nicht immer so?) im Privaten. Was ist ein explodierender Atomreaktor gegen die Kernschmelze einer Beziehung, was ist die verstrahlte Landschaft gegen das verstrahlte Grinsen der verboten Frischverliebten?
Till Raether nutzt die permanente Bedrohung, die man (Déjà-vu) nicht riechen, schmecken oder sehen kann, als eine Art Grundrauschen. Er spart sich die 80er-Jahre-Nostalgie weitgehend, auch einen typischen Berlin-Roman hat er nicht geschrieben, obwohl die Geschichte in keiner anderen Stadt spielen könnte. Grenzüberschreitungen passieren hier auf verschiedenen Ebenen.
Provinzielle Zustände
Barbara und Achim sind aus Bad Godesberg nach West-Berlin gezogen, damit Achim dort in der Bundesanstalt für Materialprüfung Silvesterraketen testen kann. Aus der Provinz – wo die Eltern nach ein paar Schnäpsen noch leutselig „anno Adolf“ sagen, wenn sie „im Krieg“ meinen – in die vermeintlich aufregende Halb-Metropole.
Bloß warten dort, in der Zehlendorfer Wohnsiedlung, statt David Bowie und Aufbruch ähnlich provinzielle Zustände: Hoffeste mit „berühmtem“ Zwiebeldipp, Hausmeister in graublauen Kitteln. Ein Bundesgrenzschutzbeamter, der die Zeit mit Ganzjahresreifen besiegt. Kinder, die Nutella-Vollkornsonnenblumenbrote vor dem Fernseher futtern, während darin jemand einen Bagger auf vier Biergläsern balanciert.
Ungeahnte Freiheit
Und Marion. Die souveräne Nachbarin, mit der Achim alsbald eine Affäre beginnt, während Barbara lethargisch in der uneingerichteten Wohnung dämmert und sich vor frischem Salat fürchtet. Eine „Treue Seele“ ist in diesem Roman eigentlich kaum jemand. Marion ist einst aus dem Osten der Stadt geflüchtet, mit der S-Bahn.
Sie hat Mutter und Schwester zurückgelassen, einen Langweiler geheiratet, sucht nun in der Westberliner Frauengruppe nach dem „Weiblichen“ und trifft sich mit Achim erst auf dem Wäsche-Dachboden und später „drüben“. Ausgerechnet der Ostteil der Stadt ermöglicht einem heimlichen Paar eine ungeahnte Freiheit. Erst als Achim einen Geigerzähler in einer Märklin-Geschenkbox zu Marions Schwester schmuggelt, gerät auch diese Leidenschaft auf ihre Zielgerade.
Seinen Figuren gehört die Zuneigung des Autors
Till Raether (der das Buch dort spielen lässt, wo er selbst aufwuchs) holt thematisch weit aus. Tschernobyl, Stasi, Flucht, erste DDR-Freiheitsbewegungen, große Gefühle – das ist viel Stoff. Aber es sind vor allem seine Figuren, auch jene am Rand, denen die Zuneigung des Autors gehört. Die drei Sudaschefski-Schwestern zum Beispiel, die Mercedes-Sterne klauen, interessiert ihre knutschenden Nachbarn registrieren und vielleicht den letzten Sommer gemeinsam verbringen, bevor die Pubertät endgültig dazwischen grätscht.
Die pragmatische, berlinernde Kollegin im Materialprüf-Labor („Hilft ja allet nüscht“), Marions Ehemann, der sich Modern-Talking-Singles aus dem Kinderzimmer klaut und dem Nebenbuhler ungelenk das „Du“ anbietet, „in Anbetracht der Tatsache“. Schon für solche Formulierungen, für die in ihrer Beiläufigkeit oft sehr komischen Beobachtungen („Scheißwindjacke, Horten in Bonn“) lohnt sich das Lesen.
Und, doch, auch für die Erinnerung an den kollektiven Ausnahmezustand, damals, im „Tschernobühl“-Frühjahr 1986. Als der Regen zur Bedrohung wurde und das Leben trotzdem einfach weiter tröpfelte.