Hamburg. Eine Riesenschlange vor der Eingangstür des Gymnasiums Blankenese, gefühlt bis nach Wedel: Die Autorin und Kritikerin hielt Hof.
Was war das denn für ein Auflauf vorm Eingang des Elbvorort-Gymnasiums? Riesenschlange, die Leute standen gefühlt bis nach Rissen, wenn nicht Wedel! Elke Heidenreich war in der Stadt, das Idol der reifen, kulturbeflissenen, Anleitung brauchenden und solide alternden Buch-Bürgerinnen und -bürger. Sie ist die wirkmächtigste Literaturkritikerin vermutlich, jetzt hat die 80-Jährige, die schon viele eigene Bücher veröffentlicht hat, einen Riesenhit. Er heißt „Altern“ und führt die Bestsellerliste seit Monaten an.
Auf Einladung der Herbstlese Blankenese stellte Heidenreich die neue Rentnerbibel in der Aula des Gymnasiums Blankenese vor. Bereits am Abend vorher war sie übrigens im Literaturhaus im Einsatz. Klarer Fall von Elke-Mania und Feier der eigenen Alterskohorte: Im Publikum waren ausschließlich Fans, überwiegend im Ü60-Bereich; ihnen prostete Heidenreich, als sie die Bühne betrat, mit einem Rotwein-Glas zu. Uns geht‘s ja noch gold!
Elke Heidenreich in Hamburg: Trost für Ältere und Jüngere
Überhaupt war dieser Abend, bei dem die Protagonistin von Pianist Marc-Aurel Floros begleitet wurde, wie das Buch selbst, eine Stärkung, eine Übung der Annahme des Unvermeidlichen, ein unbedingt positiver Powerakkord für den letzten Lebensabschnitt. Eine Bestätigung für Alte, ein Trost für Jüngere (auch die waren im Publikum). Oder umgekehrt. Heidenreich gab die unverbrüchliche Losung gleich in den Raum, in dem am Ende 350 Leute waren (mehr gehen halt nicht rein): „Schön, dass Sie alle gekommen sind, um sich anzuhören, dass man vorm Altern keine Angst haben muss.“
Keine Angst also, wer hört das nicht gerne, selbst wenn geriatrische Interventionen noch sehr fern sind. Insofern ist Heidenreichs Buch der allgemeinste, klarste Bestseller überhaupt. Geht halt jeden etwas an. Wenn man so belesen ist wie Heidenreich (drei Stockwerke zu Hause in Köln, Tausende Bücher), kann man Reflexionen über das Alter (sowie Tod und Sterben, ja, das kommt dann auch) mit Schopenhauer, Julien Green, Noteboom und Jane Campbell schmücken.
Und wenn es hochgeistiger wird – bei Heidenreich immer in Maßen, die Frau ist natürlich eine Agentin des Populären –, bedarf es zwischendurch eines Piano-Zwischenspiels. Oder wie Heidenreich es ausdrückte: „Wenn er zwischen den Kapiteln spielt, können Sie darüber nachdenken, was die Tante gesagt hat.“
Elke Heidenreich in Hamburg: Lesung aus ihrem Bestseller „Altern“
Man könnte das alles für trivial halten, was da so an Tipps und Handreichungen kursierte. Aber das ist es gar nicht, denn das Leben und das Altern sind nicht trivial. Wenn man schönen jungen Männern hinterhersieht und die nun unerreichbar sind? „Lese ich halt Liebesgeschichten“, erklärt Heidenreich, die außerdem eine Freundin namens Gisela zitieren konnte. Die hat mal gesagt: „Das Gehabthaben schützt vor dem Habenwollen.“ Wäre tatsächlich nicht schlecht, wenn es so grundsätzlich käme.
Das Alter spüren, ihm trotzen. Die Ängste beim Wachliegen zwischen drei und fünf Uhr morgens, aber nach dem Aufstehen dann einfach weitermachen. Mutlose Tage und Durchhängen? Hat man in jedem Alter, schreibt Heidenreich in ihrem Buch. Und auch, dass Milliarden vor ihr das Sterben geschafft haben, warum soll sie das nicht auch schaffen?
Aber morbid war wenig an diesem geschmeidigen Auftritt, weil der Text so ist: unterhaltsam und komisch. Heidenreich ist optimistisch, was ihr Geschlecht (der Blick auf alte Frauen ändere sich), und gnädig, was ihre Generation angeht. „Wir kennen Altersverachtung sehr gut, ihr Lieben“, rief die Alt-68erin den Blankenesern zu. Aber ihre Generation hinterlasse in erster Linie nicht einen kaputten Planeten, sondern Werte. Und immerhin habe sie auch Die Grünen gegründet und etwa gegen das Waldsterben gekämpft.
Elke Heidenreich: „Ob ich klimafreundlich heize, ist der chinesischen Industrie egal“
Dass das etwas fad klingt angesichts der Klimakrise, weiß auch die wache Elke Heidenreich („Die Jungen übernehmen eine beschädigte Welt“), weshalb sie dann noch argumentativ nachlegte: „Ob ich klimafreundlich heize, ist der chinesischen Industrie egal.“ Was dann eben auch richtig ist, aber kein Alibi sein darf, nicht wahr? Das beherzte „Schiebt uns allen nicht die Schuld in die Schuhe“ kam jedoch sicher auch im Elbvorort gut an.
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Am Ende gab es jedenfalls lange anhaltenden Applaus. Nach einer Dreiviertelstunde Signieren entschwand die Superbestsellerin in die Blankeneser Nacht, sie war noch jung.