Hamburg. Der Soziologe Heinz Bude legt ein Buch über die geburtenstarken Jahrgänge vor. Stehlen die sich gerade aus der Verantwortung?
Wann ist Ihnen zuletzt der Begriff „Boomer“ begegnet? Oder, möglicherweise, genauer noch die Formulierung „Du Boomer!“, halb Vorwurf, halb Witz? Die jungen Leute, die ganz jungen, Millennials, Generation Z, was auch immer: Sie sind mit TikTok-Fixheit, mit sanftem Spott („Der Boomer kauft sich Vinyl, kann‘s sich auch leisten, mir reicht Spotify“) und der souveränen Arroganz der Spätergeborenen zur Stelle.
Dabei sind wir derart Adressierten streng genommen oft gar nicht gemeint. Die Boomer, oder wie man sie früher häufiger auch nannte: Babyboomer, entstammen in Deutschland den geburtenstarken Jahrgängen 1955 bis 1970. Wer danach zur Welt kam, mag zwar auch schon älter sein, ein Boomer ist er oder sie jedoch nicht.
Kriegsbedingt stiegen die Geburtenraten hierzulande später als in anderen westlichen Nationen. Seinen Höhepunkt erreichte der Babyboom 1964 mit 1,36 Millionen zur Welt gebrachten Kindern, DDR und Bundesrepublik zusammengenommen.
Heinz Budes neues Buch „Abschied von den Boomern“: ein Generationsporträt
2022, berichtet Heinz Bude in seinem jetzt erscheinenden Generationsporträt „Abschied von den Boomern“, wurden in Deutschland knapp 600.000 Babys weniger geboren. Damit man sich mal ein Bild macht von der Dominanz, die die Boomer historisch ausgeübt haben und immer noch ausüben, wenn auch künftig vor allem als Belastung der Rentenkassen. Ihre Generationskohorte? Eine Horde. 30 Prozent der Bevölkerung stellen sie derzeit. Sie waren und sind überall.
Heinz Bude, Jahrgang 1954 und einer der bekanntesten Soziologen des Landes (bis 2014 leitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung den Arbeitsbereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“), verfasste seine Studie auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung des Aufstiegs seiner Generation. Also mit viel Sympathie.
Man muss dem Professor für Makrosoziologe aber nicht grundsätzliche Generationeneitelkeit unterstellen. Sein Forscherleben hat Bude immerhin auch der prominenten Vorgängergeneration gewidmet, den berühmt-berüchtigten 68ern, die in der Anarchie der Trümmerjahre ihre Prägungen erhielten. Das war reinstes Revoluzzermaterial.
In „Abschied von den Boomern“ tauchen die 68er bisweilen am Rande auf, für etliche unter jenen sind sie die Elterngeneration. Einmal bezeichnet Bude, der wie stets mit eleganter Geisteswissenschaftlerfeder (ein seltenes Vorkommnis) von seinem Ich zum allgemeinen Wir kommt, die 68er als „Alleswisser“.
Was ja nur fast Besserwisser sind. Reinhard Mohrs alte Definition der Boomer als „Zaungäste“, also zu spät gekommene 68er – der Hamburg-München-Wiener Schriftsteller Matthias Politycki bezeichnet sie als 78er –, erteilt Bude übrigens eine entschiedene Absage. Das Profil der Boomer erscheint ihm dann doch entschiedener konturiert, weniger auf 68 fixiert, ein Selbstwert mit hohem Wirkungsgrad.
„Abschied von den Boomern“: Auf Wiedersehen, ihr Breitmacher!
Da muss man besonders als Nachgeborener im Nirgendwo zwischen Generation X und Millennials natürlich aufstöhnen. So wie man die Selbstbespiegelung einer Generation, die nicht die eigene ist, ab einem bestimmten Punkt enervierend finden kann, auch aus rein „genozentrischen“ Gründen. Aber die Boomer, die so viele sind, haben sich halt besonders breitgemacht. Sie sitzen auf den Plätzen, auf die wir wollen – auf Wiedersehen also, war (nicht) schön mit euch!
- Generation X im Job-Frust: Warum dieser Trend so gefährlich ist
- Kultur und Demografie: Türkische Musik in der Elbphilharmonie? „Wir werden bunter“
- Regisseur Milo Rau: „Unsere Theater sind auf Kosten anderer so warm“
Wobei es ja ohnehin lediglich die Älteren dieser Generationskohorte sind, die (bald) nicht mehr im Mittelpunkt der Arena stehen. Wer Ende der 60er-Jahre geboren ist, hat den letzten Karrieresprung womöglich noch vor sich. Eine soziodemografische Heraushebung aus der Masse ist bei den Boomern angebracht. „Mit der fortschreitenden Lebenszeit ihrer Angehörigen wandelt sich die Generation von einer geprägten zu einer prägenden Strömung in der Zeit“, schreibt Bude.
Die Boomer waren prägend, in weltweiter Perspektive: Budes Essay nennt Bill Clinton, den Boomer, der der mächtigste Mann der Welt wurde, und Angela Merkel. Außerdem die Tech-Pioniere, Leute wie Jeff Bezos, Bill Gates und Steve Jobs. Ein Erfolgsjahrzehnt der Boomer, in denen ihr Siegeszug begann, waren die „Roaring 90s“.
Bude deutet seine Generation auch mithilfe der Kunst (Heiner Müller, Fassbinder) und mit Denkern wie dem in seinem Text allgegenwärtigen Schumpeter, der von der schöpferischen Zerstörung sprach. Die Boomer, das waren in der Tat die, die im Schutzmantel goldener, friedvoller Jahrzehnte experimentieren konnten.
Die Boomer erlebten, neben den katastrophischen Schlüsselerfahrungen Tschernobyl und Aids, die Epoche nach dem Mauerfall als eine Zeit der Möglichkeiten. Ideologisch festgelegt hatten sie sich, anders als die aus ihrer Sicht bornierten 68er, nie. Die Boomer, sagt Bude, „haben den Neoliberalismus als Ausdrucksform einer Revolution des Ichs“ verstanden. Sie seien „weltbejahend“ statt „weltverneinend“ gewesen – wieder der Blick auf die 68er, die Generation der Kriegskinder.
Phänomen Boomer: die Generation in der Mitte
Wie Budes meinungsstarke Würdigung überhaupt Abgrenzungen für seinen Beschreibungsgegenstand sucht. Für die Boomer – generationskonstituierende Erfahrungen: Westberlin, Hausbesetzerszene, Brokdorf – wird sich tatsächlich zeigen, welche Rolle sie als „die Generation in der Mitte“ (Bude) in der historischen Betrachtung spielen werden. Werden sie „führend im Verhältnis der Generationen zwischen den abgetretenen Kriegskindern von 1968 und den abwartenden Millennials“ sein, „oder müssen sie sich mit der Rolle einer folgenlosen Zwischengeneration zufriedengeben?“
Budes Blick ist explizit gesamtdeutsch. Gemeinsam ist den Ost- und Westboomern demnach der Verlust der großen Erzählungen, der Welterklärungen, an denen man sich aufrichten und orientieren kann. Sie sind Kinder der Postmoderne: „Auf beiden Seiten der Mauer nahmen die Boomer hin, was nicht zu ändern war. Im Osten glaubten sie weder an den Sozialismus noch an seinen Untergang, im Westen weder an den Kapitalismus noch an dessen Überwindung. Sie befanden sich, um es noch mal mit dem Gesamtdeutschen Heiner Müller zu sagen, in einem großen Wartesaal, in dem alles auf Geschichte wartet.“
Die Boomer: Verständnis für die Sorgen der Kinder und Enkel
Mentalität und Weltanschauung der Geburtenstarken werden von Bude pointiert herausgearbeitet. Sie waren Easy Adopter der Zeitläufte; zur Lebensnormalität wurden schnell so unterschiedliche Dinge wie weibliche Selbstermächtigungen und Smartphones. Was selbstverständlich klingt, wird es wegen der Nähe zu älteren Prägungen nicht gewesen sein.
Muss man Bude nachsehen, dass er mit der Gelassenheit alternder Boomer auf die angestrengte Weltlage blickt, jetzt, wo die Hütte wirklich beinah brennt? Nicht unbedingt. Aber dass seine Generation wie die der 68er glaubt, dass nach dem Weltkrieg das Schlimmstmögliche bereits geschehen ist, mag ja plausibel klingen. Transgenerationell haben die Nachkriegskinder die Erfahrungen ihrer Eltern aber aufgesogen. Anzunehmen, dass auch bei Boomern angesichts von Putins Tyrannei neue Weltkriegsängste aufgerufen sind. Wenn Bude lapidar sagt, Boomer verstünden, „dass für ihre Kinder und Enkel das Schlimmste, das einem auf unserem Kontinent zustoßen kann, noch bevorsteht“, erklärt das vermutlich die relative Unzuständigkeit jeder Generation für die Probleme der nachfolgenden.
Generation Boomer: Auf die Probe gestelltes Wirklichkeitsverständnis?
Womit man bei der Angelegenheit wäre, bei der man als Spätergeborener dann doch in eine Art Angriffshaltung gehen möchte. Bude spricht angesichts des Status quo von einem auf die Probe gestellten Wirklichkeitsverständnis der Boomer, wenn es um die Zukunftsängste der Jüngeren geht. Na immerhin, möchte man ausrufen. Nicht weil die geburtenstarken Jahrgänge zur Herausforderung für die Rentenkassen und den Wohlfahrtsstaat werden, werden die Boomer von der Generation Greta kritisch beäugt.
Sondern, weil ihr hedonistischer Lebensstil den Planeten an den Rand des Infarkts gebracht hat. Nun muss man sagen, dass zum Beispiel die Kinder der Boomer die Welt vermutlich noch weitaus mehr klimaschädigend bereist haben als diese selbst. Budes Erwähnung, den Boomern solle nun „auf offener Bühne“ der Prozess gemacht werden („Es steht der Vorwurf im Raum, dass die Boomer als Vorfahren ihren Nachfahren die Zukunft gestohlen haben. Wie konntet ihr einfach so dahinleben?“), kann man in seiner Tendenz, dass „Generationengerechtigkeit“ eine Sache ist, die nicht in Ressentiments ausarten sollte, nachvollziehen.
Allerdings bleibt die Frage, warum wir teilweise deutlich Jüngeren nicht mindestens neidisch sein sollten auf das wesentlich unbeschwertere Leben in der Vergangenheit. Ältere Generationen haben auf Kosten der Gegenwart und Zukunft gelebt, das kann niemand ernsthaft infrage stellen. Budes Erklärung, wonach die Boomer selbst sähen, „dass etwas schiefgelaufen ist und nach wie vor schiefläuft und dass sie sich nicht einfach in ein geruhsames Alter davonstehlen können“, klingt reichlich schlapp. Und gleichzeitig nicht. Es gibt ja auch die Omas for Future.
Lesung:Heinz Budetritt mit „Abschied von den Boomern“ am 21. Februar im Literaturhaus Hamburg auf.