Hamburg. Die Autorin und Literaturexpertin hat (fast) die ganze Welt gesehen und nun ein wunderbares Buch über das Reisen geschrieben.

Im grimmigen Schottland begegnet ihr ein Pfau namens Macbeth, auf den Fidschis ahnt sie, wo Jürgen von der Lippe seine gewaltig gemusterten Hemden kauft. Auf einem Pariser Flohmarkt ersteht sie eine Schaufensterpuppe, und in Moskau trinkt sie Bier, in dem der Wodka gleich mit drin ist. Die Autorin und Literaturexpertin Elke Heidenreich („Lesen!“) ist in ihrem Leben viel gereist – sie hat Reportagen geschrieben und berühmte Freunde besucht, exzessiv Opern geschaut und immer wieder das Alleinsein zelebriert.

Und nun hat sie ein pointiertes, kurzweiliges Buch über all das Reisen geschrieben: „Ihr glücklichen Augen“ heißt es und kommt wie ein Tagebuch daher, herrlich vollgestopft mit Fotos, Postkarten, Eintrittskarten und Andenken. Ein dankbarer Blick auf schräge und bewegende, lustige und traurige, immer bereichernde, oft tief beglückende Begegnungen mit Menschen, Orten und Erinnerungen.

„Ich mache mir ein Bild, ich habe eine Erwartung, aber am Ende kommt es ganz anders und genau richtig“, schreibt Heidenreich. Im Gespräch erzählt sie, wohin sie immer wieder möchte (und wohin niemals mehr), warum der Mut unterwegs größer ist als daheim – und von einem Mann ohne Nase.

„Hotelliegen sind nicht so mein Ding“, schreiben Sie. Unterscheiden Sie zwischen Reisen und Urlaub machen – und tun Sie beides?

Heidenreich: Ich mache nie Urlaub. Ich muss mich nicht erholen. Ich bin ja nicht fest angestellt, das heißt, ich muss nicht in bestimmten Wochen, die mir zustehen, wegfahren, sondern ich kann wegfahren, wann immer mir danach ist. Und das habe ich mein Leben lang so gehalten. Wenn ich denke, ich sollte mal nach Palermo, fliege ich nach Palermo. Es gibt so ein paar Dinge, die in meinem Leben nicht stattfinden, mit denen ich nichts anfangen kann: Silvester, Muttertag, Urlaub. Ich fahre einfach gern weg und lern die Welt kennen.

Im Vorwort Ihres neuen Buches fragen Sie: „Ist ein Reisender etwa auf der Flucht?“ Wenn ich diese Frage direkt an Sie zurückgebe: Ja, nein, manchmal?

Heidenreich: Manchmal! Manchmal, wenn man mit dem Leben oder mit der Arbeit nicht klar kommt, dann tut es gut, vier Tage lang nach Wien zu fahren, ins Theater oder in die Oper zu gehen. Wenn man zurückkommt, ist der Liebeskummer oft besser. Manchmal fliehe ich auch vor meinem strengen Schreiballtag einfach ein paar Tage dahin, wo es schön ist. Paris oder so.

Elke Heidenreich in Peking.
Elke Heidenreich in Peking. © Elke Heidenreich

Sie seien auf Reisen nie ängstlich, schreiben Sie. Das geht mir ähnlich, ich fand mich oft sogar besonders risikofreudig, wenn ich in verrosteten Bussen an ungesicherten Abhängen entlang gefahren oder Nevercomeback-Airlines geflogen bin oder Undefinierbares vom Grill auf Nachtmärkten probiert habe. Warum trauen wir uns auf Reisen, was wir sonst eher nicht wagen würden?

Heidenreich: Ich finde es wunderbar, wie Sie es beschreiben, denn mir geht es genauso. Ich würde mich das auch alles trauen, ich bin auf Reisen viel mutiger und neugieriger als zuhause. Das habe ich unterwegs gelernt: mich zu trauen. In manchen arabischen Ländern oder in Russland versteht man die Sprache nicht und kann sie auch nicht lesen, man muss sich durchtasten. Als ich in Shanghai allein U-Bahn gefahren bin, ging es sehr gut – weil es auch immer Menschen gibt, die einem helfen.

„Alleine Urlaub zu machen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Allein zu reisen kriege ich hin“, hat mir der Schriftsteller Matthias Politycki mal gesagt. Warum reisen Sie am liebsten allein?

Heidenreich: Wenn ich reise, will ich gucken. Da will ich Notizen machen, nicht gestört werden. Da trab ich ganz allein rum. Allenfalls mit einem befreundeten Fotografen, Tom Krausz, dem das Buch auch gewidmet ist, mit dem ich sehr viele Reisen für Reportagen gemacht habe. Den kann ich gut vertragen, der stromert mit seiner Kamera herum und ich mit meinem Notizbuch, und dann treffen wir uns irgendwo und erzählen uns, was wir erlebt haben.

Das klingt mehr nach zwei Alleinreisenden, die gemeinsam unterwegs sind...

Heidenreich: Ganz genau. Und das finde ich gut. Wenn man als Paar unterwegs ist, schleppt man ja doch nur seine alten Konflikte mit und diskutiert die beim Essen statt zu gucken, wie schön die Kanäle in Venedig sind.

Empfinden Sie das Reisen als artverwandt mit dem Lesen? Man versinkt am besten für sich allein in neue Welten?

Heidenreich: Ja, die Eindrücke sind stärker, wenn man allein ist und sie nicht sofort verquatscht.

Apropos lesen: Reiseführer meiden Sie. Ist das eine Art Trotz? „Ich kann das auch ohne Anleitung“?

Heidenreich: Doch, ja, ein bisschen Trotz. Aber ich vergesse eh sofort, wann diese oder jene Basilika gebaut wurde. Ich kann auch keine Stadtpläne lesen, ich verlaufe mich immer. Ich traue lieber meinen Augen.

Es gibt im Buch ein sehr schönes Kapitel über Gent - in dem aber Gent eigentlich gar keine Rolle spielt, sondern eine unglückliche Liebe. Gibt es Orte, an die sie nicht mehr fahren würden, weil das Herz schon im Gedanken daran krampft?

Heidenreich: Nee, das war eine unglückliche Liebe, und die ist ja lange vorbei. Aber es gibt Orte, in die ich aus anderen Gründen nie mehr fahren würde, zum Beispiel St. Petersburg. Das hat mich so gelangweilt mit seiner Pracht! Dann gibt es Städte, bei denen ich denke: Da habe ich nicht genug erlebt, da müsste ich noch mal hin. Havanna zum Beispiel. Und es gibt Wien oder Paris oder New York, wo man immer wieder hinfahren kann. Das sind Städte, die an jeder Ecke etwas bieten, was man noch nie gesehen hat.

Haben Sie immer ein Notizbuch dabei? Und was notieren Sie?

Heidenreich: Immer! Ich habe mein Leben lang Tagebuch geschrieben, ich habe immer ein kleines Büchlein dabei, in das ich schöne Sprüche oder Gedanken oder Erlebnisse reinschreibe. Daraus ist zum Teil auch dieses Buch entstanden. Über Berlin zum Beispiel wollte ich eigentlich gar nichts schreiben, weil ich mit Berlin immer meine Probleme habe. Aber ich hatte in Berlin mal einen so lustigen Taxifahrer – hätte ich den Dialog mit dem nicht aufgeschrieben, dann hätte ich den auch nicht mehr so erinnert. In dem Fall habe ich das schon im Taxi notiert. Er ist gefahren und hat unentwegt geredet, ich saß hinten und habe mitgeschrieben. Das hat er gar nicht gemerkt.

Sie haben diese Büchlein aus den vielen Jahren und vielen Reisen alle aufgehoben?

Heidenreich: Alle! Während wir reden, gucke ich auf den Schrank, in dem die alle drin stehen. Stapelweise. Hunderte!

Fotos machen Sie unterwegs nicht so gerne. Warum nicht?

Heidenreich: Ich hatte nie einen Fotoapparat in meinem Leben. Jetzt mit dem Handy mache ich das manchmal und gucke die Bilder dann an und lösche sie wieder. Ich bin einfach mehr ein Mensch der Wörter als der Bilder.

Aber Sie kaufen Souvenirs, Erinnerungsstücke...

Heidenreich: Immer, überall. Ich bringe oft mit, aber ich kaufe immer auch für mich selbst, damit ich mich erinnere. Drei kleine Glaspyramiden aus Kairo, in Wien eine alte Granatkette, die ich nie trage, weil sie so altmodisch ist. Aber vielleicht trage ich sie jetzt doch mal, wo ich selbst so altmodisch werde. Ich gehe auch wahnsinnig gern in die Haushaltsabteilungen, da lernt man unheimlich viel über die Länder, in denen man ist.

Zuhausebleiben ist natürlich keine Option für jemanden, der gern unterwegs ist, aber wie ist es mit dem Nachhause-Kommen? Kommen Sie gern wieder zurück?

Heidenreich: Ja! Wunderbar finde ich das! Dann schmeiße ich alles in die Ecke, trinke ein Glas Wein, lese meine Post und packe irgendwann meinen Koffer aus. Und wenn ich dann drei, vier Wochen zu Hause bin, denke ich mir: Ach, wäre doch ganz schön, mal wieder wegzufahren.

Wie halten Sie es denn heute: Lieber zurück an einen Ort, an dem es besonders schön war oder lieber etwas Neues entdecken?

Heidenreich: Jetzt bin ich in einem Alter, in dem ich lieber zurückkehre an einen Ort, an dem es schön war. Bald fahre ich nach Sils Maria im Engadin, das leiste ich mir zwei, drei Tage im Jahr. Da ist das Wiedersehen mit Gewohntem ganz wunderbar.

Elke Heidenreichs Buch „Ihr glücklichen Augen
Elke Heidenreichs Buch „Ihr glücklichen Augen" erschien im Carl hanser Verlag © Carl Hanser Verlag

An einer Stelle im Buch schreiben Sie: „Auf jeder Reise will ich ein bisschen bleiben.“ Gab es tatsächlich mal einen Moment, wo Sie das ernsthaft in Erwägung gezogen haben?

Heidenreich: Ich war vor fast 30 Jahren in Neuseeland. Und ich fand es so unfassbar schön. Eine solche Landschaft! Schneebedeckte Berge, Haine voller Aprikosenbäume, kleine Städte, Urwald, freundliche Menschen, herrliche Weine - da gibt es echt alles! Und da habe ich gedacht: Warum lebe ich eigentlich nicht hier? Dann schaue ich mir auf der Karte nochmal an, wo Neuseeland liegt. Wenn die Welt ein Ende hat, dann wirklich dort. Ich habe dort übrigens bei einem Mann in einem Bed & Breakfast gewohnt, der hatte keine Nase mehr. Sondern ein Loch im Gesicht. Ich habe ihn gefragt, warum, und er hat mir geantwortet: „Oh honey, it’s cancer!“ Es war Krebs. Das Ozonloch hatte ihm die Nase weggefressen. Da wollte ich dann schon nicht mehr in Neuseeland leben. Aber ich lebe ja ohnehin von der Sprache, ich brauche ein Land, in dem man meine Sprache spricht. Eigentlich würde ich ganz gern irgendwo in der Schweiz leben. Köln, wo ich wohne, ist nicht mehr so mein Ding – aber mit so vielen Büchern zieht man im Alter nicht mehr um.

Sie werden im kommenden Jahr 80 Jahre alt. Ist dieses Buch, in dem es ja nicht nur um besondere Orte, sondern ganz viel auch um besondere, mit Ihnen verbundene Menschen geht, auch eine Art Lebensbilanz?

Heidenreich: Ja. Ein bisschen war das auch schon bei meinen letzten beiden Bücher „Alles kein Zufall“ und „Männer in Kamelhaarmänteln“ so. Kleine Geschichten im Rückblick auf mein Leben, das macht man wahrscheinlich so, wenn man älter wird. Ich hatte ein Bedürfnis, darüber zu schreiben und das festzuhalten. Diese drei Bände gehören irgendwie zusammen. Die Geschichten, die ich erlebt habe, die Klamotten, die Reisen. Jetzt ist auch vieles erstmal fertig erzählt. Ohne die Coronajahre und den Hausarrest wäre ich wahrscheinlich gar nicht darauf gekommen, das alles aufzuschreiben. Ich fühle mich durchaus noch munter und nicht wie 80. Manchmal fühle ich mich wie 108 und manchmal auch wie 50.

Elke Heidenreich, geboren im Februar 1943, erlangte Mitte der 1970er-Jahre als Fernsehkabarettfigur Else Stratmann überregionale Bekanntheit. Sie ist Schriftstellerin, Journalistin, Kolumnistin, Opernkennerin und noch immer einflussreiche Literaturkritikerin – oder vielmehr: Literaturvermittlerin, einst in ihrer ZDF-Sendung „Lesen!“, heute unter anderem als Teil des Kritikerteams im Schweizer „Literaturclub“. Als Autorin hat sie zahlreiche Bestseller veröffentlicht, darunter ihre vielfach ausgezeichnete und übersetzte Katzengeschichte „Nero Corleone“.

Im Literaturhaus Hamburg stellt Elke Heidenreich am Dienstag, 27.9., 19.30 Uhr, ihr neues Reise-Buch „Ihr glücklichen Augen“ vor. Die Saaltickets sind ausverkauft, Streamingtickets unter www.literaturhaus-hamburg.de