Hamburg. Zeruya Shalev traf in Hamburg auf ein großes Publikum. Es sind schwere Zeiten für die Israelin, die „Liebesleben“ schrieb.

Einen langen, kraftspendenden Applaus gab es gleich am Anfang, als Zeruya Shalev auf die Bühne trat. Der Applaus war Ausdruck der klaren Intention, Mitgefühl zu zeigen: Blankenese steht hinter Israel. Es ist gerade die Zeit für Gesten, Erklärungen, Demos; immer in Anerkenntnis der Gefahr, die einer Gesellschaft, die der Welt droht, wenn Dinge wie Weltoffenheit und Demokratie auf dem Spiel stehen.

„Remigration“, Antisemitismus, es geht jetzt ums Ganze. Das war natürlich der Kontext, in dem sich auch der Auftritt der Autorin von Weltrang, Zeruya Shalev, am Sonnabendabend im Gymnasium Blankenese abspielte.

Es sei nicht leicht für sie, in diesen Tagen ihre Heimat und ihre Familie zu verlassen, erklärte die 64-Jährige den 350 Leuten in der bis auf den letzten Platz besetzten Aula. Ein schöner Erfolg für die Elbchaussee-Buchhändler Pascal Mathéus und Florian Wernicke, übrigens; ihre Buchhandlung Wassermann (ehemals Kortes) kurbelt das Kulturleben im Elbvorort durchaus an. Shalev, deren beeindruckender Auftritt von Moderatorin Shelly Kupferberg und der Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader flankiert wurde, gestand dem Publikum aber auch: „Die Distanz ist für mich andererseits nicht so schlecht, ich fühle die Solidarität, die Wärme für Israel.“

Blankenese steht auf: Warmherziger Empfang für israelische Autorin Zeruya Shalev

Da hatte ihr Buchhändler Mathéus („Wir maßen uns nicht an, darüber zu urteilen, was militärisch notwendig und verhältnismäßig ist“) längst eindringlich ein „We stand with Israel“ entgegengerufen. Shalev war, es konnte in diesen schwierigen Zeiten nicht anders ein, als Repräsentantin eines angegriffenen und nun kriegsführenden Landes nach Blankenese gekommen. An einen Ort, zu dem einem immer manches einfallen kann; dass er nobel ist und reich und privilegiert zum Beispiel. An diesem Abend stand er aber einfach nur für Frieden, Schutzräume aufsuchen muss hier niemand.

Mehr zum Thema

Es ging dann, nach den unverzichtbaren aktualitätsbezogenen Präliminarien, die auf manche Weise eben doch die Hauptsache waren, um Zeruya Shalevs Debüt „Nicht ich“, das mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen im Original nun auch auf Deutsch vorliegt.

Es ist ein reizvolles, spezielles, anspruchsvolles Werk. Eine Frau, die Mann und Kind verlässt, aber mit ihrem Geliebten aufgrund dieses Traumas des Verlassens auch nicht glücklich wird. Ein in Israel einst kontrovers diskutiertes Buch, das, wie Shalev es formulierte, surrealistisch ist, nicht realistisch. Ein Identitätsspiel als Klagelied einer aus guten Gründen haltlosen Frau.

Der Büchertisch bei der Lesung Zeruya Shalevs: Es ging aber nicht nur um Literatur, weil es in Deutschland und der Welt jetzt wohl endgültig ums Ganze geht.
Der Büchertisch bei der Lesung Zeruya Shalevs: Es ging aber nicht nur um Literatur, weil es in Deutschland und der Welt jetzt wohl endgültig ums Ganze geht. © jms@jmsphoto.de | Joerg-Martin Schulze

Fast musste man schmunzeln, als man bei Lesung und Gespräch meinte, vor allem auch in ein wenig ratlose Gesichter zu blicken. Sehr moderne Literatur für ein gutbürgerliches, wahrscheinlich am literarischen Experiment eher sekundär interessiertes Publikum, haha.

Aber es war auf jeden Fall so, dass man einer Feststellung Shalevs („Ich hatte damals mit den Verrissen nicht gerechnet, ich war traumatisiert“) so ziemlich folgen konnte. Bei der eigenartigen Erfahrung, zu ihrem ersten Roman nach so vielen Jahren zurückzukehren, sei sie, berichtete Shalev, auf dessen nun noch größere Aktualität gestoßen. Frauen, die wütend sind, die mit lauter Stimme sprechen, das ist ein einstweilen Hoffnung machendes Signum unserer Zeit.

Zeruya Shalev in Hamburg: Manche Romane werden unfair behandelt

Shalev war zunächst als Lyrikerin in Erscheinung getreten. Als sie erzählte, wie sie nach der Ablehnung ihres ersten Prosawerks in eine Sinnkrise geriet, mochten die allermeisten das sicher für nachvollziehbar gehalten haben: Manche Romane werden unfair behandelt und ihre Urheberinnen und Urheber dazu, weil die Zeit für sie noch nicht reif ist.

Die Hamburgerinnen und Hamburger fühlen sich derweil reif für „Nicht ich“: Am Büchertisch wurde nach der Veranstaltung zugegriffen. Shalev nahm sich Zeit für ihre Leserinnen und Leser; gut war aber, dass neben „Nicht ich“ auch noch „Liebesleben“ im Angebot war. Umsichtige Buchhändler sorgen vor.

podcast-image

Moderatorin Kupferberg konnte ihren Gast leicht zu einer Kurzlesung auf Hebräisch (dessen Klang kennen wir, eh klar, auf Netflix schauen wir selbst „Fauda“ im Originalton) bewegen. Später entlockte sie Shalev noch das eindeutige Bekenntnis zur Prosa. Sie würde ja gern wieder Gedichte schreiben, „aber sie kommen nicht mehr zu mir“, so Shalev. Gut, dass sie Lyrizsmen in ihren Romanen unterbringt. Ihr Debüt, sagte Shalev, sei ja „eine einzige Metapher“.

Warum ihr Werk immer wieder so intensiv um Liebe, Sex, Beziehungen kreist? Die vielen Nuancen einer Beziehung sind faszinierend, sagt Zeruya Shalev. Familienbeziehungen sind spannend, Familien determinieren uns und unser Leben. Sie sei, berichtete die israelische Autorin, in ihrer Kindheit eine Art Spionin gewesen, sie habe immer die Erwachsenen und ihr zwischenmenschliches Tun beobachtet.

Zeruya Shalev: Ihren Erfolgsroman notierte sie ins Schulheft der Tochter

Es war das Übungsheft ihrer gerade eingeschulten Tochter, in das sie, als der erste Schock über die schlechte Aufnahme ihres Debütromans überwunden war, „Liebesleben“ notierte. Jenen Roman, der der Durchbruch für sie war. Maria Schrader, die in Blankenese die deutschen Kapitel aus „Nicht ich“ las, hat „Liebesleben“ 2007 verfilmt. Sie sei, sagte Schrader unter dem Gelächter des Publikums, damals der Überzeugung gewesen, nur sie habe wirklich verstanden, worin es in dem Roman gehe. Vielen anderen sei das aber genauso gegangen.

Das ist die Magie von Literatur: Es gibt nie nur eine Lesart, nur eine Interpretation eines Textes. Shalevs Romane legen davon beredt Zeugnis ab. Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Angriffs auf ihr Land, überlegt die Autorin, so erzählte sie es in Hamburg, ob sie derzeit überhaupt schreiben, ob Schreiben etwas bewirken kann. Sie wollte mit ihrem neuen Roman beginnen, und dann war Israel im Krieg. So viele schreckliche Ereignisse. Sie habe sich gefragt, was die Rolle einer Autorin im Krieg sei.

Zeruya Shalev bei ihrem Auftritt in der Aula des Gymnasiums Blankenese
Zeruya Shalev bei ihrem Auftritt in der Aula des Gymnasiums Blankenese © jms@jmsphoto.de | Joerg-Martin Schulze

Und dann hat sie erst mal Essays geschrieben und Nachrufe. Auf Menschen, die sie gar nicht kannte. Es waren plötzlich so viele tot. Aber man kann sich wohl Hoffnung machen, dass diese große Erzählerin bald an ihren Roman geht. Sie sagte es ja selbst in der Aula des Gymnasiums Blankenese: Es ist im Krieg nicht nur erlaubt, über Liebe und allzu Menschliches zu schreiben; es ist sogar notwendig.

Eine Aussage, die nicht von ihr stammt, Zeruya Shalev zitierte ihre berühmte Kollegin Lea Goldberg (1911–1970), die vor vielen Jahrzehnten diese Sätze sagte, als Israel noch ein junges Land war, aber genauso in seiner Existenz bedroht wie heute.