Hamburg. Ein glorreiches Dutzend Buchpreis-Finalisten war in Hamburg zu Gast. An einem Abend. XXL aus Prinzip – reichte die Kondition?
Auf ein Neues also, Speeddating mit Büchern, großer Longlistabend im Literaturhaus. Ein Dutzend Vor-Finalistinnen und -Finalisten des Deutschen Buchpreises gaben sich die Ehre, zwölf von 20 also, was wieder ein temporeiches Vorgehen erforderte. Aber es waren eben vier Auftretende weniger als im Vorjahr, wie Hausherr Rainer Moritz durchaus erleichtert erwähnte.
Es war also insgesamt luftiger an diesem erst heißen, dann gewittrigem Mittwochabend im gottlob auch teilklimatisierten Eddy-Lübbert-Saal am Schwanenwik. Und wohl auch deswegen erschien die immer schon so besondere Veranstaltung, die halt ein (zu?) schnell schaltendes Rezeptionsverhalten voraussetzt, diesmal als unbedingt gelingendes Literaturevent.
Deutscher Buchpreis im Literaturhaus: Julia Westlake und Rainer Moritz mit XXL-Einsatz
Ein Überblicksangebot an begeisterte Leserinnen und Leser war das, bei dem die Aura des Raums keine kleine Rolle spielte. Die Streamingmöglichkeit ist ein wunderbares Werkzeug, auch angesichts des begrenzten Raums am Schwanenwik. Aber das Liveereignis ist etwas anderes, und die Aufnahme- und Amüsierbereitschaft des Einzelnen wächst durch die Anwesenheit von Nebenfrau und Nebenmann.
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So bestand kaum Gefahr, dass die 20-Minuten-Schichten vor je abnehmendem Publikum stattfanden. Was auch an den unerschütterlichen Navigatoren durch die fette Literaturwelle lag. Julia Westlake und Rainer Moritz moderierten abwechselnd und mit Gespür für den Rhythmus der Marathonveranstaltung, unter voller vorheriger Lektüreaufladung. Muss man ja auch mal sagen, professionelles Viel-Lesen ist Arbeit.
Auf der Bühne sah es auch nach Arbeit aus, aber unbedingt freudvoller. Was am ganz guten Literaturjahrgang liegen könnte, und ganz grundsätzlich ist es ja so, dass die Vorurteile gegenüber deutscher Literatur meist nicht stimmen. Man muss sie nicht durchackern.
Wenn sie so unterhaltsam ist wie Dana von Suffrins kolossal gelungener Familienroman „Noch mal von vorne“, der von Ehe, Geschwistern, vom Sterben und Übrigbleiben, vom Jüdischsein erzählt. Oder so komisch und melancholisch ist (beide Attribute gehören auch zu Suffrin) wie André Kubiczeks großartiger autobiografischer Coming-of-Age-Roman „Nostalgia“, der allerbestes Buchpreis-Material ist und sicher den Sieg davontragen könnte. Kubiczeks trockener Auftritt kam gut an im Literaturhaus.
Deutscher Buchpreis im Hamburger Literurhaus: Thomas Mann und Lüneburger Heide
Das galt noch mehr für Timon Karl Karleyta, der – angetrieben von Fragensteller Moritz – seinem Sanatoriums-Roman „Heilung“ auf der Bühne noch mehr Komik einhauchte, als er eh schon hat. Den „Zauberberg“ kannte Karleyta nicht, jetzt hat er immerhin mal 300 Seiten gelesen, „ja, auch Thomas Mann hat das gut gemacht“. Dann las er clevererweise eine fesselnde, nun ja, Tiertötungsstelle. Man hörte zu mit offenem Mund.
Das sind sonst so die Themen: ein Genozid im Irak. Politisches, Welthaltiges also bei Ronya Othmann. Markus Thielemann ist dagegen an der Heimatfront unterwegs in seinem Lüneburger-Heide-Roman „Vom Norden rollt ein Donner“, wobei es für den Autor viel eher ein Anti-Heimat-Stoff ist. Weil Heimat im schlechten Fall vor allem Exklusion betreibt.
Von Frauwerden in der Wendezeit, unter den Vorzeichen einer toxischen Beziehung, erzählt Ruth-Maria Thomas in ihrem Roman „Die schönste Version“, und auch da reichten die knapp 20 Minuten Gespräch und Lesung, um den Zuhörenden zumindest einen neugierig machenden Eindruck vom Buch zu vermitteln.
Experimentelle Prosa in Hamburg: Das Publikum goutierte auch „Hasenprosa“
Am Büchertisch war jedenfalls in den Pausen Betrieb, wobei Rainer Moritz‘ teurer Tipp („Kaufen Sie möglichst viel, dann steigen Ihre Chancen, den Siegertitel bereits in Ihrem Besitz zu haben, wenn er gekürt wird“) eher nicht ganz beherzigt wurde.
Clemens Meyer („Die Projektoren“) und Daniela Krien („Mein drittes Leben“) waren, neben sechs anderen, nicht dabei. Clemens Meyer stellt sein aktuelles Buch am 25. September am Schwanenwik vor, Daniela Kriens Lesung am 10. September muss dagegen wegen Krankheit ausfallen und wird am 29. Januar 2025 nachgeholt.
Mit Maren Kames, die selbstbewusst ihr Buch „Hasenprosa“ präsentierte, war hingegen die experimentelle Prosa vertreten. In einem ganz weiten Sinn könnte man das auch als Familienroman bezeichnen, wobei sich Literatur ja auch allzu eng geschreinerten Schubladen entziehen darf. Moderatorin Westlake, eine prinzipiell offene Leserin, lobte zu Recht die Überraschungsmomente bei Kames. Und das genauso prinzipiell offene Publikum war sowieso im vorurteilsfreien, neugierigen Modus unterwegs.
Neben den Genannten traten an diesem Abend Martina Hefter („Hey guten Morgen, wie geht es dir?“), Ulla Lenze („Das Wohlbefinden“), Mithu Sanya („Antichristie“), die zugeschaltet wurde, Doris Wirth („Findet mich“) und Iris Wolff („Lichtungen“) auf.
Iris Wolff war bereits im Frühjahr zu Gast und hat, wenn denn der Jubel, der sie beim Gang zur Bühne begleitete, dafür ein Gradmesser ist, bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie war als Letzte dran, womit der Applaus gleich doppelt verdient war. Knapp fünfeinhalb Stunden Literaturpower waren es diesmal, sie lohnten sich.