Hamburg. Die erstaunlichen Storys der Ü-80-Debütantin Jane Campbell gibt es längst auch auf Deutsch. Sind die auch was für Jüngere? Sicher doch.

Ein englischer Westküstenort. Die Alten machen ihre Spaziergänge, sie haben Zeit. Sind sie wunderliche, vergessliche, hinfällige Alte? Leute, die keine Sehnsüchte mehr haben? Keine Bedürfnisse, Gelüste? Die nur noch danach streben, eine ruhige Seniorenkugel zu schieben? Nein, es sind Leute wie Leo, der alte Schwerenöter, dem die Ich-Erzählerin im Auftaktstück von „Kleine Kratzer“, dieser erstaunlichen Sammlung von Erzählungen, eine allerletzte Lektion erteilt. Nachdem sie mit ihm geschlafen hat. Beziehungsweise, aus ihrer Sicht, sich der Vorgang eines „vollständig vorhersehbaren und aus meiner Warte ziemlich unergiebigen Gefummels und Gekeuches“ zutrug.

Sie nennt das Edelmut, was sie anschließend tut: Sie erlöst Mattie, die von ihrem Mann Leo schlecht, sehr schlecht behandelt wird, von diesem Quälgeist. Es wird hier nicht verraten, wie dies genau geschieht. Ein paar Hinweise: Der Hund des Ehepaars, in Obhut gegeben bei der Erzählerin, spielt eine Rolle. Es ist ein überaus hungriger Hund, den Leo abholen möchte, und dann – passiert etwas.

Die Engländerin Jane Campbell hatte eine jahrzehntelange Karriere als Psychoanalytikerin hinter sich, als sie 2017 eine Kurzgeschichte an die „London Review of Books“ schickte. Die Story war so gut, dass Nachschub angefordert wurde. Mit dem Resultat eines Erzählungsbandes, der seit einiger Zeit auch in seiner deutschen Übersetzung für Furore sorgt: „Kleine Kratzer“ heißt er (im Original „Cat Brushing“) also, und er ist zum Jahres-Kehraus ein finaler Tipp für alle, die etwas fürwahr Originelles lesen möchten.

Jane Campbell und ihre Storys: Auch alte Menschen spüren das Verlangen

Die Heldinnen der 13 Storys sind, versteht sich von selbst, in keiner Weise Abziehbilder dessen, was wir klischeemäßig von alten Frauen erwarten. Ja, die Themen Einsamkeit, Rückblicken aufs eigene Leben, Sterben, Vergänglichkeit dominieren und sind die Gefühlstapete des geriatrischen Raumes. Aber es sind doch ganz eigene Zugänge, die sich die 81-jährige Jane Campbell zu ihren Betrachtungsgegenständen verschafft. Ältere Leserinnen und Leser könnten sich wiedererkennen, jüngere Generationen müssen aber genauso wenig wie Seniorinnen und Senioren verzagen: Das Alter, wie Campbell es beschreibt, birgt Überraschungen. Es ist beschwerlich, die Zipperlein und Gebrechen, die Krankheiten, das Abgeschobenwerden in das Entmüdungsbecken des Lebens, wo man abhängen soll, ohne noch eingreifen zu können.

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Aber, hey, man will und darf, auch wenn man alt ist, was bei Jane Campbell heißt: jenseits der 70, noch Liebe suchen und finden. In „Susan und Miffy“, der schönsten, hoffnungsvollsten dieser Geschichten, verliebt sich die sehr alte Patientin Susan in ihre Pflegerin, sie ist ein halbes Jahrhundert jünger. Natürlich, man muss das küchenpsychologisch lesen: Sie, die einen heterosexuellen Lifestyle, Mann und Kinder hatte, verliebt sich angesichts der jugendlichen Brüste und der Glätte ihres Gegenübers vor allem in das, was sie einmal war und längst nicht mehr ist: jung. Sie schmachtet ihr jüngeres Ich an.

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Dennoch ist diese Leidenschaft ein Drängen zu einer anderen Person, eine Lust auf Nähe, vielleicht doch: ein Anerkennen ihres wahren Begehrens. Als späte Wendung in einem Leben. Jane Campbells Geschichten deprimieren nicht, selbst wenn die Autorin spitz formuliert. Sarkasmus sollte nicht das schlechteste Mittel sein, um sich Egozentrik zu gestatten; Egozentrik, die ja auch Selbstbehauptung ist. Der erste Satz von „Susan und Miffy“ lautet: „Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau.“ Es ist keine Frage, ob die Lust wirklich schlimm ist, sie ist es wirklich an keiner Stelle, auch wenn die Heldin mit ihren Empfindungen ringt. Susan schläft mit einem Lächeln ein, weil sie das Verlangen noch einmal spürt.

„Kleine Kratzer“ von Jane Campbell: 13 außergewöhnliche Heldinnen

In einer anderen Geschichte reist eine Frau an den Ort einer früheren Liebe. Linda trifft Malik erneut, aber anders als sie glaubt er nicht, dass die Verflossene die einzig wahre Liebhaberin für ihn war. Diesen Text durchströmt der Fluss der Vergeblichkeit, der Leere, der Trauer, großer Einsamkeit. Die Protagonistin Linda ist am Nullpunkt angekommen, und für sie gibt es keinen nächsten, glücklicheren Akt. Das Alter ist keine Epoche der Seligkeit. Ist es, angesichts allfälliger Verluste, ein schwieriger Lebensabschnitt als vorangegangene?

Das Buchcover von Jane Campbells „Kleine Kratzer“ (Kjona-Verlag, übers. v. Bettina Abarbanell, 187 S.,  23 Euro).
Das Buchcover von Jane Campbells „Kleine Kratzer“ (Kjona-Verlag, übers. v. Bettina Abarbanell, 187 S., 23 Euro). © Kirchner | Kirchner

Das kann man sich fragen, liegt aber nicht im vorrangigen Erkenntnisinteresse der späten Literaturentdeckung Jane Campbell. Ihr Erzählungsband „Kleine Kratzer“ ist ganz und gar außergewöhnlich, weil er von Menschen berichtet, die in Romanen und Geschichten sonst so gut wie nie eine Rolle spielen. Die Texte haben Witz und Melancholie, und nicht jede Heldin will überhaupt noch leben. Aber dieses Leben ist doch etwas, um das es am Ende geht.