Hamburg. Clemens Meyer ging in Frankfurt leer aus. Dabei ist „Die Projektoren“ das wagemutigste Werk der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur.
Sollte man beim Deutschen Buchpreis von Fehlentscheidungen sprechen? Wenn, dann ist das im Hinblick auf die Expertenjurys sicher hart. Sie urteilen Jahr für Jahr souverän und machen sich die Preiskür nicht leicht. Es gibt stets mehr als einen starken, preiswürdigen Titel. Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ über Liebesbetrug im Internet ist eine solide Wahl. Aber in dem Jahr, in dem ein Literatur-Großdenker wie Clemens Meyer sein aufregendes, pulsierendes Epos „Die Projektoren“ veröffentlicht, ist es die falsche.
Um was geht es in „Die Projektoren“? Es fängt damit an, dass der Erzähler dieses Riesenromans eine seiner (in diesem Falle nicht leibhaftig auftretenden) Figuren beharrlich Dr. May nennt. Karl May ist gemeint, und der geistesnobilitierende Titel ist, ja was: eine ironische Brechung? Völlig ernst gemeint? Man kann es so sehen: Geschichten sind Medizin. Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“ quillt über vor Geschichten. Sie stapeln sich auf einem Bergmassiv von 1050 Seiten, das zuerst der 47-jährige Autor erklimmen musste. Jetzt sind wir Leserinnen und Leser dran. „Die Projektoren“ ist Überliteratur, purer Literaturwille, eine Hommage an die Literatur (und den Film), ein Statement gegen Häppchenkultur. Unter vielem anderen.
Der Verfasser dieser Zeilen war vier Tage lang Bergsteiger. Die Belohnung? Höhenluft – der literarische Atem wehte ihn an, mit einer Vehemenz, wie man sie heute nicht mehr so oft findet. Viele Stunden des Staunens darüber, was dieser Autor da macht, der mit seinen zwei großen Romanen „Als wir träumten“ (2006) und „Im Stein“ (2013) die hohe Erzählkunst etablierte, um sich nun am Höchstplateau zu versuchen.
Am Ende, nach so vielen Jahren Schreib- und Denkarbeit, nach Blut, Schweiß und Tränen (auch auf der Seite des Lesenden) mit Erfolg. Das Problem? Die Handlung dieses sehr besonderen Buchs auf den Punkt zu benennen. Schon klar, die besten Bücher sind oft die, bei denen das eben nicht so einfach ist.
Neuer Roman „Die Projektoren“ von Clemens Meyer: „Wow“ und „Hä??“ und „Alter!“
Aber „Die Projektoren“ ist, als Plot-Ungetüm, Stil-Wagnis und Assoziationsraum, wahlweise eine Riesenladung „Wow“ und „Hä??“ und „Alter!“. Alles hat eine Bedeutung (Dr. May!), und nichts ist komplett logisch. Es sei denn, man spräche von Traumlogik, und da wären wir dann auch: „Die Projektoren“, diese Textcollage, die genauso gut ein Werk der filmischen Überblendungen ist, ist vor allem anderen ein Fiebertraum. Zum Beispiel der Fiebertraum eines Patienten in der Irren-, Heil- und Pflege-Anstalt Dr. Güntz in Leipzig.
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Dort beginnt der Höllenritt in einem Buch, das es von seiner Dichte und Gedrängtheit, seinem Erzähl-Elan und der Fantasie mit Thomas Pynchons Gesamtwerk und William T. Volkmanns Epos „Europe Central“ aufnehmen kann. Meyers „Die Projektoren“ handelt von Nationalismus, der Spaltung in Ost und West, vor allem vom Balkankrieg der 1990er-Jahre. Dabei spannt der Autor den Bogen vom Partisanenkampf gegen Hitler bis zum NSU. Sachsen ist ein Handlungsort, New York ein anderer. Jugoslawien natürlich, weil dort, bezogen auf die jüngere Geschichte, der letzte europäische Krieg stattfand.
Neues Buch von Clemens Meyer: Ein Halstuch, als sei er John Wayne
Und weil dort in den 1960er-Jahren die Karl-May-Filme gedreht wurden. May ist ein großer Erfinder; die Frage, ob er je im Land der Indianer und Cowboys war, ob er im Orient war, ist eher mit Nein zu beantworten. Im Erfinden tut es ihm der maßlose Erzähler Meyer nun gleich. Es gibt zwei besonders ausgiebig auftauchende Figuren in diesem kühn und auf so entschiedene Weise geplotteten Erzählstück, dass jeder Handlungsstrang am Ende doch beinah plausibel erscheint. Da ist zum einen „der Cowboy“, der am ehesten den Protagonisten abgibt. Er läuft mit Halstuch herum, als wäre er nicht Jugoslawe, sondern ein Ami namens John Wayne, und war noch quasi ein Kind, als er Hitler auf dem Balkan aus der Hecke bekämpfte, nachdem er nach dem Nazi-Angriff seine Familie verlor.
Später ist dieser Ex-Knacki der Kauz vom Berg, der sich mit einem Ziegenhirten zusammengetan hat, die Frau eines anderen Partisanen begehrt, und schließlich als Statist am Set der deutsch-jugoslawischen Wildwest-Leinwandschinken, um dann in einer weiteren Volte selbst zum Autor von Groschenromanen zu werden. Da ist zum anderen Georg, ein Leipziger Ghettokid mit starkem Hang zu rechten Gedanken, weil die Gewalttätigsten in seinem Viertel Neonazis sind. Welche Filme hat Georg in seiner Kindheit gesehen? Die mit Old Shatterhand und Winnetou.
Roman „Die Projektoren“: Tito trifft auf Old Shatterhand
Durch diesen die Populärkultur des 20. Jahrhunderts zitierenden Stoff geistern Pierre Brice und vor allem Lex Barker (als „LEX“), der als ideologischer Außenposten der USA in Europa Stimmung gegen den Kommunismus macht. Den selbst ernannten „humanen“ Kommunisten Tito („der Marschall“) lernt LEX einmal persönlich kennen. Gab es solch ein Treffen wirklich? Es könnte zumindest sein. Meyer wird akribisch recherchiert haben. Aber diese ganze virtuos vermengte irre Stofffülle, und das ist die notwendige Courage hinter solch einem Opus magnum (oder einem „Blauwal“, wie Heinz Strunk sagen würde), ist insgesamt viel mehr einem originellen Geist entsprungen, der einfach mal von Ungeheuerlichkeiten wie Krieg und Hass anhand der unvermutet eng beieinanderliegenden Koordinaten Sachsen, Winnetou, Kino, Jugoslawien und Irrenanstalt erzählen wollte.
Viele der hier Auftretenden begegnen einander mindestens zweimal, und namentlich „der Cowboy“, der als lonesome Welten- und Zeitenwanderer beinah überall auftaucht und dabei auch eine Liebesgeschichte erlebt. Das Personal in diesem Roman ist kaum zu überblicken, und als Hauptbeobachtung bleibt vor allem haften: Die Themen Karl Mays, der Kampf der Völker in Amerika und im Orient, spiegeln sich in den Gegenwarten, die Meyer in den Blick nimmt.
Man darf stark vermuten, dass zu den leichter ersichtlichen Verbindungsstücken – eines ist die Klinik, in der die literarischen Figuren als Psychiatrie-Patienten von ebenso irre wirkenden „Dottores“ von ihren Gewalterfahrungen geheilt werden sollen, ein anderes das Wiederauftreten eines Bruderpaars – noch viele weitere kommen. Meyer hat sie in seinen Monstertext, in sein Textmonster eingearbeitet, das an manchen Stellen fröhlich („Woouu sin deeene Gossdiiime? Woouu sin de Gauboys un de Indioners? Un wus drägstn du doo für e drecksches Gelumbe offm Leib, mei Bruuuder“) ist wie nur irgendeines.
„Die Projektoren“ ist eher Arthouse als Blockbuster, eine Groteske über das, was Menschen einander antun. Dass ein Doppelagent in diesem Roman seine Auftritte haben muss, der Geheimnisse mit sich herumschleppt, versteht sich von selbst. Es ist der Text selbst, der das größte Geheimnis ist. Hätte man die Literatur als Kunstform der unendlichen Möglichkeiten auszeichnen wollen, hätte der Deutsche Buchpreis zwingend an Clemens Meyer gehen müssen.
Wir haben an dieser Stelle übrigens noch gar nichts über dieses Buch gesagt. Oder zumindest nur etwas, auf das ein anderer Leser unter Umständen gar nicht käme. „Die Projektoren“ ist ein nur manchmal beschwerliches Abenteuer, Sauerstoffmaske nicht vergessen!