Hamburg. Eine Frau verliert ihre 17-jährige Tochter. Sie wird krank, zieht sich von allem zurück, um allein zu trauern. Ein Roman, der berührt.
Wie landet man hier, in diesem völlig reizlosen Dorf, das sich um eine viel befahrene Straße gruppiert? Irgendwo in der Walachei in der Gegend von Leipzig. Sächsische Einöde. Hier herzuziehen, das sei „ein Tod auf Raten“, sagt eine Kindheitsfreundin zu ihr. Sie sei wie ein Tier, das sich zum Sterben zurückziehe.
Als die Handlung von Daniela Kriens neuem Roman „Mein drittes Leben“ einsetzt, lebt die Ich-Erzählerin Linda schon zwei Jahre auf dem ehemaligen Hof, gelegen in einer Provinz, die für niemanden attraktiv ist. Mit einer Hündin. Mit gelegentlichen Sozialkontakten. Ihr Mann Richard kommt ab und zu vorbei, irgendwann teilt er ihr mit, dass er eine Neue hat. Er hat diese Trennung von seiner Frau nicht gewollt. Er wollte gemeinsam mit ihr trauern, aber Linda konnte das nicht. Ihr bisheriges Leben war zu Ende.
Neues Buch „Mein drittes Leben“ von Daniela Krien: Aber wo ist das Licht?
Das ist vorher geschehen: Richards und Lindas 17-jährige Tochter Sonja wurde im Stadtverkehr von einem Zwölftonner totgefahren. Die bei der Kunststiftung einer Bank arbeitende, auf die 50 zugehende Linda steht vor den Scherben ihres Glücks. Sie bekommt Krebs. Sie zieht sich vollkommen zurück. Die Hündin, ein paar wenige Bekannte in diesem gesichtslosen Dorf – Natascha mit ihrer behinderten Tochter, das alte Ehepaar – und ein letztlich vorhandener Überlebenswille sorgen dafür, dass Linda eben nicht im Schatten der Welt stirbt, den dieser Ort darstellt. Aber wo ist Licht?
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Von dieser Frage handelt Daniela Kriens vierter Roman, in dem die 48-jährige Schriftstellerin, die seit „Die Liebe im Ernstfall“ sehr zu Recht eine große Nummer auf dem Buchmarkt ist, ihre Kernkompetenz großartig ausspielt. Krien vermag es, in unvermeidlichen, unmissverständlichen Sätzen so etwas wie Wahrheit über die Menschen und das Leben herzustellen. Warum Linda nach dem ultimativen Verlust, an den sich weitere (der des Ehemanns, des Jobs, der sozialen Verankerung) anschließen, weitermacht, wird in „Mein drittes Leben“ geduldig und, was für ein schnödes Wort im Hinblick auf die Anerkennung des Lebens, seinen Wert, plausibel erzählt.
Unfreiwillig findet Linda den Weg zurück in die Stadt; die Hoferben beanspruchten das Haus, in dem sie zwischenzeitlich lebte, für sich. Die gemeinsame Familienwohnung mit Richard, einem zum Lehrer mutierten Künstler, wird verkauft. Lindas zweites Leben, das Mutter-Leben, ist nun symbolisch noch einmal zu Ende gegangen. Zeit ist ein Faktor bei der Bewältigung, der wichtigste vermutlich. Davon legt dieses Buch Zeugnis ab.
Daniela Krien und ihr Roman „Mein drittes Leben“: Schlenker zur ostdeutschen Identität – „Fuck AfD!“
Es ist die bildungsbürgerliche Gesellschaftsschicht, der sich Krien besonders gern zuwendet. So auch hier: Die Schriftstellerin Brida, die man bereits aus „Die Liebe im Ernstfall“ kennt, taucht wieder auf. Kriens Leserschaft wird sich ob dieser Intertextualität freuen. Es gibt ein paar Schlenker zur speziell ostdeutschen Identität ihrer Figuren, auf ostdeutsche Lebensläufe, die Krien zur Grundlage ihrer Erzählung macht. Lindas Mutter, eine pragmatische, wendefähige Witwe, hat ihren Auftritt. Nach dem Fall der Mauer ging sie mit ihrer Tochter in den sehr reichen Westen, bekam zwei Söhne und ließ sich von ihrem Mann unterbuttern.
Ihr Verlust war die Aberkennung ihrer Herkunft aus einer anderen Welt; eine Erfahrung, die viele Ostdeutsche machten. Hinsichtlich ihrer Tochter ist diese Mutter streng und nimmt Bezug auf ihren eigenen Verzicht, Leid zu artikulieren: Linda müsse nach vorne sehen. Der Roman selbst blickt oft zurück: Krien verwebt mit sicherer Hand Lindas Gegenwart mit ihrer Vergangenheit, auch der in einer Patchwork-Familie (Richard hat bereits zwei Kinder). Und natürlich der als Mutter von Sonja.
„Mein drittes Leben“ von Daniela Krien: „Ort, an dem Sehnen und Leiden enden“
Ostdeutsche Jugendliche, erklärt die Erzählerin Krien einmal, seien durch den Systemumsturz in ein anarchisches Vakuum geraten. Linda erlebte dies nicht als nach Westdeutschland Verzogene. Ihr Vakuum, ihre Leere, ihr Loch, ist viel später von wesentlich existenziellerer Schwere. Was schweres Ostdeutschtum angeht, erlaubt sich Krien übrigens, ein „Fuck AfD“ im Roman unterzubringen und ein „FCK NZS“. Aber es ist lediglich die gegenwartsbezogene Ausstaffierung einer Welt, in die ihre Heldin Linda wieder hineinfinden muss.
Es ist das Interesse am anderen Menschen, es sind Empathie und Hilfsbereitschaft, es ist das Absehen vom eigenen Elend, das ihr letztlich den Weg weist. Auch ein Garten, die Metapher ist naheliegend, will gepflegt werden. Und Richard ist wieder da, eine alte Verbindung. Aber erst muss sie endlich auch über diesen Verlust weinen. Das macht ihr auch Angst, und mit Trauer geht diese Frau so um: „Die Sehnsucht nach Nähe ist wieder erwacht und hat mich aufgeweicht. Ich muss zurück in die Kältekammer, dank der ich nicht zerflossen bin, mich nicht aufgelöst habe. Tief in mir drin gibt es sie, an einem Ort, an dem Sehnen und Leiden enden.“
Daniela Krien stellt ihren Roman am 10. September im Literaturhaus vor. Am 9. September ist der Roman Thema beim Wassermann-Quartett auf der Herbstlese Blankenese (Gemeindehaus Blankenese).