Hamburg. Die Marathon-Veranstaltung in Hamburg mit 16 Finalisten dauerte bis tief in die Nacht: erschöpfend, einmalig – und vielleicht bald neu.
Ackern mussten sie schon vorher, die unerschrockenen Moderatoren Julia Westlake und Rainer Moritz. Wie immer, wenn es um die Longlist-Veranstaltung des Hamburger Literaturhauses geht. Von den 20 Finalistinnen und Finalisten des Deutschen Buchpreises folgen dem Ruf an die Außenalster stets die allermeisten. Und man hört dann immer ein imaginäres Stöhnen derer, die jene auf der Bühne willkommen heißen müssen: Was man da alles in kürzester Zeit alles lesen muss!
Aber Literatur ist noch nie ein Kindergeburtstag gewesen und wird das auch nie sein. Und so steuerten die NDR-Literaturarbeiterin Westlake und der Literaturhausarbeiter Moritz am Mittwochabend unverdrossen und doch auch mit Lust durch das kurzatmige Schaulaufen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der Literaturhaus-Saal war, zumindest am Anfang, voll.
Und die Bücher am Verkaufstisch des Herrn Samtleben, des tapferen Schwanenwik-Buchhändlers, gingen auch weg wie geschnitten Brot. Beim Streaming waren noch mehr Leute als live vor Ort dabei.
Deutscher Buchpreis goes Hamburg: 16 Auftritte à 20 Minuten
Was also schon mal ein Indiz dafür ist, dass die sehr sportliche Aufgabe, in 20-Minuten-Auftritten Einblicke in einzelne Romane und die Themen der Gegenwartsliteratur zu gewähren, ein interessiertes Publikum hat. 16 Finalisten waren zugegen, der letzte von ihnen, Tim Staffel („Südstern“), kam gegen 23.30 Uhr auf die Bühne.
Da waren in den sechs Stunden vor ihm schon Tomer Dotan-Dreyfus mit „Birobidschan“ dran gewesen, Sherko Fatah mit „Der große Wunsch“, Elena Fischer mit „Paradise Garden“, Charlotte Gneuß mit „Gittersee“, Luca Kieser mit „Weil da war etwas im Wasser“, Angelika Klüssendorf mit „Risse“, Sepp Mall mit „Ein Hund kam in die Küche“, Thomas Oláh mit „Doppler“, Angelika Overath mit „Unschärfen der Liebe“, Necati Öziri mit „Vatermal“, Anne Rabe mit „Die Möglichkeit von Glück“, Kathrin Röggla mit „Laufendes Verfahren“, Tonio Schachinger mit „Echtzeitalter“, Sylvie Schenk mit „Maman“ und Ulrike Sterblich mit „Drifter“.
Literaturhaus Hamburg: 2022 überzeugte der spätere Gewinner Kim de l’Horizon
Vielleicht konnte man spätestens denen, die nach 22 Uhr im Rampenlicht standen, die Strapazen der Warterei ansehen. Wacker schlugen sich alle. Was sind die literarischen Inhalte in diesem Jahr?
Erstaunlich viel DDR (Gneuß, Rabe, Klüssendorf) ist dabei. Es gibt einen Coming-of-Age-Bestseller (Fischer), einen Glaubenskrieger-Roman (Fatah), einen Roman über den NSU-Prozess (Röggla), einen historischen (Clemens J. Setz) und einen Beziehungs- und Machtmissbrauchroman (Terézia Mora). Und einen, in dem eine Krake spricht (Kieser), ein Riesenkalmar mit vielen eloquenten Armen.
Im vergangenen Jahr hat beim Longlist-Aufgalopp der spätere Buchpreis-Gewinner (die spätere Buchpreis-Gewinnerin) Kim de l’Horizon schwer beeindruckt. Er durfte danach bei denen, die sich als Jury-Deuter versuchen, durchaus als Favorit gelten. Ein solcher schälte sich diesmal nicht heraus. Staffel hinterließ mit seiner Berlin-Serenade bleibenden Eindruck, und auch Necati Öziris Auftritt korrespondierte mit der Wucht seines Einwandererromans „Vatermal“ – absolut Shortlist-tauglich.
Marathon-Veranstaltung: Muss dieser Wahnsinn wirklich sein?
Die beiden prominentesten Autoren, die Büchnerpreis-Gewinner Setz und Mora, glänzten (neben Teresa Präauer und Raphaela Edelbauer) mit Abwesenheit. Vielleicht ist ihnen das Prozedere zu anstrengend, man könnte es verstehen. Mal ehrlich: Muss dieser Wahnsinn denn wirklich sein?
Selbst beim verhältnismäßig kommoden Buchpreis-Streamen – da konnte man die Übertragung anhalten und mal frische Luft schnappen – ermattete man angesichts des Roman-Overkills. Ja, das ist ein Event, eine ganz sicher außergewöhnliche Literatur-Schau. Aber jeder Titel muss sich, sosehr sich die kompetenten Moderatoren auch bemühen, als Literatur-Quickie unter Wert schlagen.
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Man könnte ein Buchpreis-Wochenende im Literaturhaus machen. Man könnte die Veranstaltung auf drei Abende strecken. Beides wäre reizvoll. Wie Julia Westlake zu später Stunde einmal sagte: „Man muss um diese Uhrzeit doppelt so oft applaudieren wie sonst, das wirkt belebend.“