Hamburg. Es bleibt kompliziert mit dem russisch-griechischen Dirigenten. Jetzt kommt er mit Brittens „War Requiem“ zum Musikfest – ausgerechnet.
Wie soll man in der Klassikwelt mit diesem moralischen Problem namens Teodor Currentzis umgehen? Ist er ein stiller Bewunderer von Putins Regime – oder ein erbitterter Ablehner, der nur noch auf den richtigen Moment wartet, um sich dramatisch loszusagen? Im März erst erklärte der in Moskau geborene Dirigent Vladimir Jurowski, seit vielen Jahren ein klarer Kremlgegner: „Die Kunst darf nicht außerhalb des moralischen Diskurses bleiben, aber Politik und Kunst sollten meiner Meinung nach auseinandergehalten werden.“ In nur drei Wörtern zusammengefasst: Willkommen im Dilemma.
Seit mehr als zwei Jahren schon sucht man nach einer für alle Fälle und aus jeder Perspektive einfachen, einzigen, angemessenen, endgültigen Antwort zu Currentzis‘ Haltung und seinem Verhalten. Immer wieder wollte und konnte man diese Antwort vertagen, weil Currentzis‘ Auftritte ja nur andernorts zum Streit führten oder wie vor einigen Monaten bei den Wiener Festwochen gestrichen wurden. Oder man konnte sich vage durchfloskeln, indirekt dem Beispiel Currentzis‘ nachkommend, der doch einzig als Künstler wahrgenommen werden möchte (und sollte?), über oder eher: neben der Gegenwart schwebend. Einzig der Musik verpflichtet. Keine neue Haltung, so oder so ähnlich haben sich schon der Komponist Richard Strauss und der Dirigent Wilhelm Furtwängler staatsmittragend mit dem NS-Regime arrangiert.
Elbphilharmonie: Kontroverse um Teodor Currentzis: Er ist wieder da
Nun aber wird diese Currentzis-Zwickmühle für die Chefetage der Hamburger Elbphilharmonie, die ihn, den Publikumsliebling, nach wie vor nicht kategorisch ausladen mochte, ein weiteres Mal unter dem eigenen Dach konkret akut – noch stärker und dringlicher sogar als in den vergangenen Jahren. Currentzis ist doppelt prominent im Musikfest-Programm vertreten, das sich 2024, dem zweiten Jahr nach Russlands Angriff auf die Ukraine, um „Krieg und Frieden“ dreht. Mit eigenem Zutun ist Currentzis buchstäblich zwischen die Fronten geraten. Dort steckt er nun fest.
Es geht hier mal vor, dort mal zurück für Currentzis. Im Frühjahr hatte sich die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv geweigert, im Juni in Wien mit dem Kyiv Symphony Orchestra Teil eines Konzept-Pakets mit Currentzis sein zu sollen. „Ich kann es gegenüber den fast 150 Musikerinnen und Musikern, die aus dem Krieg in der Ukraine nach Wien reisen, nicht verantworten, in einen Kontext mit Teodor Currentzis gestellt zu werden und eventuell sogar an einem Whitewashing teilzunehmen“, erklärte sie. Er wurde ausgeladen, sie blieb im Festwochen-Programm. Auch Markus Hinterhäuser, der gerade verlängerte Intendant der Salzburger Festspiele, hält weiterhin fest zu Currentzis. Im Juli eröffnet eine Neuauflage von Mozarts „Don Giovanni“, wieder inszeniert von Romeo Castellucci, deren Opern-Programm.
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Currentzis hat sich öffentlich nie klar für oder gegen das Regime Putin geäußert
Viele bewundern Currentzis als charismatischen, für bestimmte Repertoire-Felder begnadet guten Dirigenten, alle möglichen Extreme voll ausreizend. Seit Jahren lebt und arbeitet der gebürtige Grieche (seit 2014 besitzt er auch die russische Staatsbürgerschaft) mit seinen ihm treu folgenden MusicAeterna-Ensembles in Russland. Man wird dort aus staatlichen Quellen finanziert, einige davon stehen auf der EU-Sanktionsliste, und genießt in St. Petersburg sehr offenkundig wohlwollende Förderung und Protektion von ganz oben und gibt auch Konzerte für Gazprom. Currentzis hat sich öffentlich nie klar für oder gegen das Regime Putin geäußert und erst recht nicht zu dessen Überfall der Ukraine. Wie es hinter seiner blickdichten Schweigefassade aussieht? Ob oder wie sehr er unter seiner Situation leidet? Niemand weiß es.
Und nun also: Hamburg. Zunächst ist Currentzis am 18. Mai mit der in dessen Jubiläumsjahr und ohnehin politisch unproblematischen Neunten von Anton Bruckner wieder da. Mit seiner eigenen Orchester-Erfindung „Utopia“, die bislang etliche Personal-Überschneidungen mit MusicAeterna hatte. „Utopia ist kein Orchester im üblichen Sinne des Wortes“, wurde im August 2022 idealisierend in der Gründungs-Presseerklärung georgelt, „sondern eine einzigartige kreative Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich der Suche nach dem besten Klang und dem wahren Geist des Musikwerkes verschrieben haben.“ Einen Monat später aber gastiert Currentzis beim Musikfest-Finale, mit Brittens „War Requiem“ in der auch dann längst ausverkauften Elbphilharmonie.
Elbphilharmonie: Stardirigent gerät mit seinem (Nicht-)Verhalten zwischen die Fronten
Es ist seine Abschiedsrunde als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters, bei dem er letztlich weniger lang blieb, als dort anfangs verzückt gehofft worden war. Ausgerechnet diese epochale Totenklage also, ausgerechnet jetzt. Jenes Stück, mit dem man ihm kürzlich in Wien dann doch keine Bühne geben wollte. Ein Stück, das 1962 geschrieben wurde und über die Zerstörung der Kathedrale im britischen Coventry durch Nazi-Bomben im Zweiten Weltkrieg sinniert, auch mit Texten, die sich auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges beziehen. Das kann man genau richtig und wichtig finden, in dieser ins Wanken geratenen Zeit. Oder aber fürchterlich, grausam unpassend, opportunistisch. Falsch.
Der Klassikbetrieb hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass dieser zunächst nur musikalisch heftig diskutierte Pult-Star sein sichtbarstes graues Schaf geworden ist. Currentzis ist kein mit staatlichen Posten überhäufter Systemling wie der im Westen verschwundene Dirigent Valery Gergiev, der schon vor dem Ukraine-Krieg mit seiner Putin-Bewunderung nicht hinter irgendeinem Berg hielt, oder der systemkonforme Bratscher Juri Bashmet. „Teodor Currentzis ist nicht an irgendwelchen Kriegshandlungen, geschweige denn Kriegsverbrechen beteiligt gewesen“, betonte Jurowski vor Kurzem im Abendblatt-Podcast „Erstklassisch“. „Er unterstützt das Regime auch nur eher passiv, durch seine Präsenz. Aber man könnte zumindest annehmen, dass er das stillschweigend akzeptiert, schon weil sein Orchester dort auch staatlich finanziert wird. Das ist ein moralisches Dilemma von Currentzis und teilweise von den Veranstaltern, die ihn einladen. Für mich ist das kein Dilemma“, so Jurowski, „weil er ein Kollege von mir ist.“
Krieg gegen die Ukraine: Anna Netrebko geht gerichtlich gegen New Yorker Met vor
Gut sichtbar von einem prominenten Konzerthaus ausgeladen wurde erst kürzlich die anders umstrittene Sopranistin Anna Netrebko. Auf Druck der Kantonsregierung wurde ein 2022 erstmals abgesagter Auftritt am 1. Juni im KKL Luzern erneut gestrichen. Offiziell wegen Sicherheitsbedenken, weil zwei Wochen später eine Ukraine-Friedenskonferenz in Luzern stattfinden soll. An der Berliner Staatsoper, der Mailänder Scala und bei den Salzburger Osterfestspielen hat man inzwischen keine Probleme mehr mit ihr. Gerade wurde bekannt, dass sie in der ersten Lindenoper-Saison des neuen Generalmusikdirektors Christian Thielemann zum Saisonauftakt in Verdis „Nabucco“ die Abigaille singen wird. Elisabeth Sobotka, die neue Intendantin dort, verteidigte die Sängerin mit dem Satz: „Man wird sich auch irren dürfen.“
Gegen die New Yorker Met, über viele Jahre ein Stammhaus, jetzt für sie fest verschlossen, ging die russische Sängerin inzwischen gerichtlich vor, um entgangene Gagen einzuklagen. Als Netrebko Anfang Mai bei den Maifestspielen in Wiesbaden auftrat, protestierten rund 400 Menschen friedlich vor dem Staatstheater dagegen. Sich wie Netrebko – oder Currentzis – eindeutig NICHT klar zum Thema Ukraine-Krieg zu positionieren scheint allmählich zum Normalzustand zu werden, den man akzeptieren kann, weil nichts Besseres zu haben ist. Manche schweigen dazu, andere regen sich deswegen auf. Am Ende bleibt womöglich vieles so uneindeutig, wie es schon seit dem 24. Februar 2022 war. Und der reale Krieg geht weiter.
Currentzis-Konzerte in der Elbphilharmonie: 18.5. Bruckner 9. Sinfonie, 16.6. Britten „War Requiem“. Evtl. Restkarten.