Hamburg. Krieg und Klänge: In seinem Buch „Das Echo der Zeit“ beschreibt Jeremy Eichler die historische Bedeutung von Erinnerung durch Musik.

Vier Komponisten, vier „Mahnmale aus Klang“, zwei Weltkriege und der Holocaust. All das klingt mit in Richard Strauss‘ Spätwerk „Metamorphosen“, in Schönbergs „A Survivor Form Warsaw“, in Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ und in Brittens „War Requiem“. Jeremy Eichler, langjähriger Musikkritiker des „Boston Globe“ und promovierter Historiker, wollte verstehen, erklären, einordnen und vor allem eindringlich daran erinnern, warum, wie und wo diese Musik über Menschheitskatastrophen geschrieben wurde, über deren zeitlosgelöste Aussagen er in „Das Echo der Zeit“ berichtet. Am 2. Mai sprechen Eichler und der NDR-Chefdirigent Alan Gilbert im Rahmen des Musikfests (dessen hochaktuelles Thema: Krieg und Frieden) in der Elbphilharmonie darüber.

Der greise Strauss betrauerte 1945 den Untergang seiner Heimat; Schönberg schrieb 1947 im US-Exil über die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto; Schostakowitsch unter enormem politischen Druck über ein Massaker der Deutschen, 1941 an 33.000 Juden in der Nähe von Kiew; Britten über die Zerstörung der Kathedrale von Coventry 1940 durch deutsche Bomben. Was macht diese vier Stücke für heute aktuell?

„Das Echo der Zeit“ von Jeremy Eichler: Vier Meisterwerke, die an Menschheitskatastrophen erinnern

Jeremy Eichler: Das hat mit der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust zu tun, mit den abgrundtiefen Rissen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Habermas sprach von einem Riss in der Solidarität aller mit menschlichem Antlitz. Wir befinden uns in der Dämmerung lebender Erinnerungen, die Zeitzeugen werden immer weniger, aber wir haben Unmengen von Informationen über die Zeit. Das Buch stellt diese Frage: Was ist der Unterschied zwischen Information und Wissen? Wie kann Musik eine wichtige Brücke sein, zum tieferen Verständnis und zur Empathie mit der Vergangenheit?

„Musik kann geschichtlich Eingefrorenes auftauen“, schreiben Sie. Diese Musik ist also auch immer politisch und sollte deswegen auch immer auf die Gegenwart bezogen werden?

In diesem Buch wollte ich dem Leser nicht sagen: Dein Zugang zu dieser Musik ist falsch. Ich wollte vielmehr eine Welt der Möglichkeiten eröffnen, um darauf zu reagieren und über diese anderen Erkenntnisschichten nachzudenken. Eine Anekdote passt gut dazu: Der Geiger Isaac Stern hat viele Meisterklassen gegeben, und nachdem er dort den vielen virtuosen Teilnehmern zugehört hatte, sagte er oft: Spielen Sie es bitte noch einmal. Aber zeigen Sie mir jetzt nicht, wie Sie es spielen, sondern: warum. Zu oft geht es vor allem nur um das Würdigen von Musik. Mir ging es aber um die tiefe Verbindung von Musik und Erinnerungen. Doch es sind nicht nur wir, die sich an die Musik erinnern, die Musik erinnert sich auch an uns, als Gesellschaft.

Jeremy Eichler, Kritiker und Kulturhistoriker, ist Klassik-Chefkritiker beim „Boston Globe“, zuvor war er bei der „New York Times“. Er wurde an der Columbia University in moderner europäischer Geschichte promoviert.
Jeremy Eichler, Kritiker und Kulturhistoriker, ist Klassik-Chefkritiker beim „Boston Globe“, zuvor war er bei der „New York Times“. Er wurde an der Columbia University in moderner europäischer Geschichte promoviert. © Tom Kates | Tom Kates

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Imre Kertesz, der ungarische Autor, schrieb: „Nur Kunst, die Wunden weitergibt, ist etwas wert.“ Stimmt das?

Das wäre sicher eine wichtige Bedeutung von Kunst, aber es ist sicher auch nichts Verkehrtes an Schönheit. Doch die Wunden in der Musik zu hören, die aus der Vergangenheit zu uns gereist ist, ist etwas Wichtiges. Im Englischen spricht man gern von einem „timeless masterpiece“. Damit nimmt man es aber aus der Zeit heraus. Paul Celan hat gesagt, ein Gedicht bewegt sich durch die Zeit hindurch, um uns zu berühren, nicht um die Zeit herum. Wir hören Beethovens Neunte mit der originalen Botschaft, aber auch mit den Narben, die ihr auf dem Weg durch die Geschichte zu uns zugefügt worden sind. Hören wir jedoch nicht beides, laufen wir Gefahr, die profunden Botschaften auf eine Art Freiheits-Kitsch zu reduzieren.

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Was haben Sie durch den Umgang mit den Komponisten-Lebensläufen über sie gelernt?

Ich wollte Wege in ihre Leben finden, wollte sie menschlicher machen – mit den schönen Momenten, ebenso aber auch ihren großen Unzulänglichkeiten. Mitgefühl und Klarheit. Schostakowitschs Leben ist so außergewöhnlich, sein Leben ist so zerbrochen! All das fügt dem Hören der Musik weitere Schichten hinzu, weil sie auf weitere Wahrheiten reagiert. Und ich wollte, dass jedes Detail zu uns spricht.

Im Tal von Babi Jar, in der Nähe von Kiew, wurden am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet. Es war das größte einzelne Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. Schostakowitschs 13. Sinfonie bezieht sich auf dieses Verbrechen und auf den Antisemitismus in der damaligen sowjetischen Gesellschaft.
Im Tal von Babi Jar, in der Nähe von Kiew, wurden am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet. Es war das größte einzelne Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. Schostakowitschs 13. Sinfonie bezieht sich auf dieses Verbrechen und auf den Antisemitismus in der damaligen sowjetischen Gesellschaft. © Pictures From History/Universal Images Group via Getty Images | Pictures from History

Sie waren auch an Orten, auf die sich die Stücke beziehen, unter anderem in der Schlucht von Babi Jar am Rande von Kiew. „Es steht kein Denkmal über Babi Jar“ ist die erste Textzeile in Schostakowitschs Stück – tatsächlich steht jetzt, nach viel zu langem Warten darauf, wieder keine Gedenkstätte mehr. Weil es im Februar 2022, in den ersten Tagen des Ukraine-Krieges, von russischen Bomben getroffen wurde. Wie war es, dort zu sein?

Dieses Buch soll dazu einladen, sich die Kraft und die Gegenwart von Kunst in unserem Leben heute wieder vor Augen zu führen. Es muss also persönlich gehalten sein. Solche Orte zu besuchen bedeutet mir sehr viel. Als ich tatsächlich dort war, fragte ich mich: Wie kann ich nur all diese Geschichten erzählen, ohne den Leser dorthin mitzunehmen? Die Ich-Perspektive soll einen Platzhalter für den Leser darstellen. In Garmisch fand ich es sehr überraschend, dass die Strauss-Familie noch kontrolliert, wer das historische Material über sein Leben zu sehen bekommt. Ich schreibe also auch über Vergangenheitsbewältigung und habe einen Historiker zitiert, der sagt, dass Erinnerung nicht wie ein Ein-Aus-Lichtschalter funktioniere.

Nochmal zum Thema Musik und Politik. Der Dirigent Christian Thielemann stellte dazu die rhetorische Frage, ob ein C-Dur denn wohl politisch sein könne? Über die Bayreuther Wagner-Festspiele sagte er: „Unten im Graben wird C-Dur gespielt. Und dieses C-Dur klang 1944 genauso wie heute.“ Was ist davon zu halten?

Er sprach darüber, wie der Akkord klingt – ich schreibe darüber, wie wir diesen Klang hören und wahrnehmen, über seine Bedeutungsebenen, die uns zur Verfügung stehen. Begegnen wir Musik einzig als ästhetisches Erlebnis, kann das ein durchaus valider Weg sein. Aber ich will unbedingt derjenige sein, der auf die vielen Schichten hinweist, auf das kulturelle Gedächtnis, die Hoffnungen, die Tragödien, die Traumata, die diese Musik uns vermitteln kann.

Einen Abend nach Ihrem Gespräch mit Alan Gilbert wird er dieses Schönberg-Stück und Beethovens Neunte dirigieren, am 16. Juni tritt der wegen seiner Nichtpositionierung zu Putins Regime heftig umstrittene Dirigent Teodor Currentzis mit dem Britten-Requiem in der Elbphilharmonie auf. Halten Sie Currentzis‘ Konzert mit ausgerechnet diesem Stück für angemessen?

Es ist sehr kompliziert. Und von uns zu verlangen, es als einfach zu betrachten, würde bedeuten, Musik, Politik, Geschichte und das Leben auf eine Weise voneinander zu trennen, die falsch ist.

Buch: Jeremy Eichler „Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“ (übersetzt von Dieter Fuchs, Klett-Cotta, 464 S., 32 Euro). Talk: 2.5. (19.30 Uhr), Gesprächskonzert, Elbphilharmonie, Kl. Saal, mit Strauss‘ „Metamorphosen“ in der Septett-Fassung. Karten: 25 Euro. Konzerte: 3.5. (20 Uhr)/5.5. (18 Uhr). Schönberg „A Survivor From Warsaw“/Beethoven 9. Sinfonie. NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert. 16.6. Britten „War Requiem“, SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis. Evtl. Restkarten. www.elbphilharmonie.de