Hamburg. Zur Debatte um den Ukraine-Krieg und seine Putin-Nähe sagte der Stardirigent direkt erneut nichts – mit dem Nach-Spiel aber sehr wohl.

Hefte raus, Klassenarbeit, Musikgeschichte! Es war einer dieser bekannten, typischen, jetzt aber akut deutungsnotwendigen Currentzis-Moves: „Wir spielen noch etwas, sagen aber nicht, was, damit es eine Überraschung ist“, sprach Teodor Currentzis in seiner Zweit-Funktion als Noch-Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters nach dem Ende des regulären Programms und ging von der Bühne der Elbphilharmonie.

Die meisten im Großen Saal blieben und wurden mit Schostakowitschs e-Moll-Klaviertrio von 1944 intensiv überrascht, aber erst nachträglich durch Programm-Zettel an den Saaltüren aufgeklärt.

Currentzis in der Elbphilharmonie – mit vielen Zwischentönen

Mittendrin in diesem finsteren Kriegs-Stück taucht nämlich ein leidenschaftlich klagendes Thema auf, das eine zentrale Rolle im berühmten 8. Streichquartett bekommen sollte – jenes eindringliche Quartett, das Schostakowitsch 16 Jahre später „den Opfern von Faschismus und Krieg“ widmete. Jener sowjetische Komponist, der heftigst erfahren musste, was es bedeuten kann, moralisch Mitgefangener in einem Krieg zu sein und bei einem Moskauer Regime in Ungnade zu fallen. Obwohl und weil es auch Phasen in seinem Leben gab, in denen er den Machthabern nützlich und zu Diensten war.

Zur aktuellen Debatte um den Ukraine-Krieg und seine eigene Putin-Nähe oder -Ferne sagte Currentzis direkt erneut nichts – aber mit diesem Nach-Spiel, bei der man um zwei Ecken mit- und nachdenken muss, sehr wohl.

Currentzis: Abschied beim SWR-Symphonieorchesters besiegelt

Und überhaupt: Prokofiew, der mit seinem 2. Klavierkonzert ein Schwergewicht des Abends war, stammt aus der Nähe von Bachmut; jenem Ort, den der ukrainische Präsident Selenskyj gerade – was für ein Timing – als Frontstadt gegen die russischen Invasoren besucht hatte.

All das ist keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung, kein Ablenkungsmanöver. All das zeigt aber das existenzielle Dilemma dieses Dirigenten zwischen den vielen Fronten. Und, nicht zu vergessen, mit einem Orchester, bei dem sein Amts-Abschied besiegelt ist. Die Scheidungspapiere sind also unterzeichnet und François-Xavier Roth wurde als Nachfolger ab 2025 verkündet, eine gewisse Distanzierung in der gemeinsamen Live-Intensität klang bereits mit.

Currentzis ist ein anderer geworden durch den 24. Februar 2022

War dieser Elbphilharmonie-Abend, wie immer dort umjubelt und dennoch anders, also „nur“ ein weiteres Konzert vor der Currentzis-Fangemeinde, die ihn ohne einen einzigen Buh-Ruf als den Star feierte, der er für sie nach wie vor ist? Wohl nicht. Nicht mehr.

Currentzis ist ein anderer geworden durch den 24. Februar, hat sich gehäutet. Der Slim-Fit-Anzug, die Liszt-Gedächtnismähne, der Verzicht aufs frontal Exzentrische. Rückzugs-Auftreten wird so signalisiert, eine für Halt sorgende Schutzverpanzerung, um im Nichtssagenwollen undeutbar zu bleiben.

Elbphilharmonie: Sensationeller Auftritt der Pianistin Yulianna Avdeeva

Er steckt fest in der Grauzone, im Vielleicht – der wohl schlimmsten Position für jeden Dirigenten, weil der doch berufsbedingt einem ganzen Orchester und dem Publikum in jedem Moment signalisieren muss, was gerade Sache ist und warum. Man kann in alle Richtungen mit wahnsinnig viel Küchenpsychologie um sich werfen, um das Zeichendurcheinander dieser knapp drei Stunden halbwegs zu sortieren.

Ganz eindeutig war dagegen der sensationelle Auftritt der Pianistin Yulianna Avdeeva. 2010 hat sie den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewonnen und ist seit dem unter ihrem Niveau bekannt. Prokofiew 2 benötigt und erhielt mit ihr eine furchtlose, souveräne Interpretin mit stabilen Nerven und noch stabileren Fingern, insbesondere für die Kadenz im ersten Satz.

Orchester macht gekonnt jede Überrumpelungswendung mit

Obwohl das Stück alles andere als spätromantisch ist, veredelte sie ihren Part mit einem elegant runden Klavierton, der die getriebene Innenspannung und die Kontraste des Materials nur noch deutlicher hervortreten ließ. Und das Orchester machte gekonnt jede der vielen Überrumpelungswendungen mit, die Prokofiew sich hatte einfallen lassen, um nur ja nicht melancholisch gestrig zu klingen.

Der nächste Ausfallschritt: Strawinskys „Sacre“. Für Currentzis eine gute Gelegenheit, um das Archaische dieser Musik wie ein großes Ton-Gedicht zu zelebrieren. Ein Stück, wie geschrieben für einige seiner Stärken, dem Auftürmen von Steigerungsbögen und dem coolen Umspielen von rhythmischen Stolperfallen.

Teodor Currentzis mit Publikums-Lieblingsstück als Vorab-Zugabe

Was in dieser mit Widersprüchen und Andeutungen aufgeladenen Konstellation Ravels „Boléro“ als Schluss-Stück zu suchen hatte? Fast wirkte es, als wollte der Tutti-Dompteur Currentzis mit diesem Publikums-Lieblingsstück als Vorab-Zugabe signalisieren: Ich kann es doch noch! Ich kann euch noch immer nach Belieben zuzaubern, mit meinem Charisma und meinen Hüpfern, als wären wir alle zurück in der einfacheren Zeit vor dem 24. Februar 2022. Nicht eine, nicht zwei, gleich drei kleine Trommeln kamen zum Einsatz, in Steigerungsmomenten effektgenau eine nach der anderen dazukommend und mitten im Orchester als Hingucker-Elemente platziert. Und Currentzis machte davor Schau.

Schaute zu, anfangs mit demonstrativ verschränkten Armen, ins Tutti hineintänzelnd, die Solistinnen und Solisten anfeuernd und, nun ja: gepflegt routiniert durchdrehend. Ein bisschen viel Weniges, eine knappe Viertelstunde vom SWR virtuos toll gespielte, aber letztlich eben doch nur leckere warme Luft war das. Zu oberflächlich und beliebig für das komplexe Hier und Jetzt des Musikers Teodor Currentzis, der auch in Putins Russland arbeitet und lebt.