Hamburg. Der Dirigent kommt mit den SWR-Symphonikern und seinem Orchester aus St. Petersburg. Wie nahe oder fern steht er Putin?
„Ich bin besorgt über das, was heute in der Kultur passiert“, protestierte der griechischstämmige Dirigent Teodor Currentzis, der seine künstlerische Heimat in Russland gefunden hatte, in einem offenen Brief. „Die Freiheit der Kunst ist ein Indikator für die Demokratie im Land. Müssen Künstler blindlings den Anweisungen von oben folgen? Dürfen Künstler keine eigene Meinung haben? Es stellt sich heraus, dass wir aus den schrecklichen Lehren der Geschichte nichts gelernt haben.“ Zeitlos wahre, gute, klare Worte.
Als Currentzis sie schrieb, vor sieben Jahren, ging es um Eingriffe von oben auf eine „Tannhäuser“-Inszenierung in Nowosibirsk. Zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat er, der mit seinen Ensembles nicht mehr in Perm, sondern seit 2019 in St. Petersburg arbeitet und von dort aus immer wieder in den Westen eingeladen wird, sich nicht geäußert. Immer noch nicht, wird ihm immer öfter vorgehalten.
Stattdessen wird – nach und auch wegen Valery Gergievs und Anna Netrebkos Positionierungen – auch über seine Haltung geredet. Und über die Nähe oder Ferne zum System Putin gerätselt. Denn zu seinen Petersburger Sponsoren zählt auch die sehr staatsnahe VTB Bank, die genau deswegen auf der Sanktionsliste der EU steht. An diesem Sonnabend gastiert Currentzis als Chef des SWR Symphonieorchesters in der Elbphilharmonie, kurz vor Ostern folgt eine mehrtägige Residenz mit seinen musicAeterna-Ensembles.
Was tun oder lassen?
Was tun oder lassen? Darüber denken gerade auch die Salzburger Festspiele nach. Currentzis ist dort Publikumsmagnet. Er soll die Festspiele Ende Juli mit einer Bartók/Orff-Kombi eröffnen, unterstützt auch von einer russischen Stiftung, die in Moskau ein Kulturzentrum betreibt. „Wir werden das alles sehr genau prüfen und unsere Konsequenzen daraus ziehen“, sagte Intendant Markus Hinterhäuser. 2020 hätte Putins Staatskonzern Gazprom dort eine Produktion von „Boris Godunov“ unterstützen sollen. Wegen Corona kam es nicht dazu.
Der SWR äußerte sich vor wenigen Tagen zum Thema der VTB-Unterstützung: Sie sei bekannt, „aus heutiger Sicht sicherlich problematisch, besteht aber schon über einen längeren Zeitraum.“ Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter deutet diesen Widerspruch so: „Aus dem Umstand, dass musicAeterna einen staatsnahen Sponsor hat, lässt sich keine unterstützende Haltung für Putins Angriff auf die Ukraine ableiten. Currentzis hat ein Orchester mit Musikern aus 15 Nationen aufgebaut, das in der Klassik weltweit einmalig ist.“ Sie hätten sich ohne staatliche Finanzierung selbstständig gemacht und in St. Petersburg niedergelassen; das sei in Russland ebenso wenig ohne Unterstützung durch Spender und Sponsoren möglich wie in Deutschland.
Das Currentzis-Sortiment wurde geändert
„In Russland wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen oder Privatpersonen zu finden, die sich durch eine explizit kritische Haltung zum Putin-Regime auszeichnen, dürfte schlicht ausgeschlossen sein“, so Lieben-Seutter weiter, „Currentzis hat die Verantwortung für rund 200 Musiker und Mitarbeiter. Die Frage, die er für sich beantworten muss, ist, zu welchem Preis man eine unabhängige Kulturinstitution weiterhin in Russland betreiben wird können. Wir sollten ihm die dafür nötige Zeit geben.“
Beim anders umstrittenen (und schließlich von ihr selbst abgesagten) Auftritt von Anna Netrebko im März war die Elbphilharmonie – anders als mit Currentzis kurz vor Ostern – Vermieter, nicht Veranstalter. Das Currentzis-Sortiment wurde geändert: Anstelle von Beethovens Neunter werde es Orchesterkonzerte geben, mit einem „der Situation angemessenen Programm“: Strauss’ „Metamorphosen“, seine später Trauermusik, und Tschaikowskys Sechste, die „Pathétique“.
Für Karfreitag sei ein kleinteiligeres Programm mit langsamen Sätzen aus den Werken verschiedener Komponisten in Planung. Zu den eigenen Terminen hat der Hausherr eine eindeutige Meinung: „Während ich die Wirtschaftssanktionen zu 100% unterstütze, halte ich nichts von einem generellen Boykott russischer Künstler. Die Elbphilharmonie wird niemandem eine Plattform bieten, der mit den mörderischen Plänen der russischen Regierung sympathisiert. Wir sollten Putin nicht dabei helfen, durch den Abbruch jeglicher kultureller Beziehungen aus Russland ein zweites Nordkorea zu machen.“
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Lieben-Seutter: „Keine Gewissensprüfung für unsere Künstler“
Kann, darf, muss man von Currentzis nun verlangen, sich klar zu äußern? Darf er auch ohne O-Ton zu Putin auf die Elbphilharmonie-Bühne? „Wir führen jetzt keine Gewissensprüfung für unsere Künstler ein“, ist Lieben-Seutters Antwort. „Außerdem scheint vielen Menschen im Westen gar nicht bewusst zu sein, was es zurzeit bedeutet, eine Positionierung gegen Putin zu verlangen. Es gibt de facto für russische Bürger keinen Raum mehr, in dem man straffrei diesen Krieg als Krieg bezeichnen kann. Es kann nicht unser Ziel sein, dass alle russischen Künstler, die im Westen auftreten, ihre Sicherheit riskieren oder gezwungen sind auszuwandern.“
Eine aktuelle Volte, sicher nicht die letzte: Anna Netrebko wurde jetzt ausgerechnet vom Opernhaus in Nowosibirsk – also dort, wo 2004 Currentzis’ Karriere begonnen hatte – von einem Konzert im Juni ausgeladen. Nach langem Drumherumschweigen hatte sie Putins Krieg kritisiert. Die Retourkutsche dafür: „Unser Land ist reich an Talenten. Die Idole von gestern werden durch andere ersetzt, die eine klare staatsbürgerliche Haltung haben.“