Hamburg. Das Festival in der Elbphilharmonie thematisiert 2024 die Kontraste der Gegenwart in einem anspruchsvollen Programm.
In den vergangenen Durchgängen hatte die Elbphilharmonie die Konzerte ihrer Internationalen Musikfeste, jeweils im Frühjahr, gern mit unverbindlichen Wadenwickel-Wohlfühl-Leitmotiven wie „Liebe“, „Natur“ oder „Hoffnung“ geklammert, das passte mit mehr oder weniger Ruckeln irgendwie für alles und jeden. Jetzt aber, für fünf Wochen ab dem 26. April 2024, ist die Realität der Gegenwart Leitmotiv und damit eben auch schmerzhafte Reibungsfläche: „Krieg und Frieden“ sind die harten Gegensätze, um die es gehen soll.
„Gerade in diesen Krisenzeiten sind Kunst und Kultur genau dafür da“, betonte die Künstlerische Betriebsdirektorin Barbara Lebitsch (Generalintendant Christoph Lieben-Seutter musste sich kurzfristig als erkrankt von der Programmpräsentation abmelden), „wir können hier einen Raum des gemeinsamen Zuhörens bieten.“
Elbphilharmonie: „Krieg und Frieden“, darunter macht es das Musikfest diesmal nicht
Dieser Raum ist historisch wie stilistisch weit gespannt und lehrreich. Er beginnt mit dem Universalgelehrten Jordi Savall im 17. Jahrhundert, in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, und reicht bis ins Heute, zu einer Musik-Performance-Gruppe aus Kiew. Weil es in der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag nicht an gewalttätigen Auseinandersetzungen mangelt, ist auch die Musikgeschichte ein großformatiger Spiegel dieser Konflikte, sowohl vorahnend als auch nachempfindend.
Als Schönberg 1911 seine Chorkomposition „Friede auf Erden“ schrieb, war der Erste Weltkrieg noch kein Thema. Drei der „Four Walt Whitman Songs“, die Kurt Weill 1941 vertonte, waren eine unmittelbare Schreckreaktion des deutschen Exilanten auf den Angriff der Japaner auf Pearl Harbour, Whitmans Texte beziehen sich auf die vier Jahre des US-amerikanischen Bürgerkriegs. Und in seiner monströs besetzten 4. Sinfonie stellte der US-Amerikaner Charles Ives, wie so oft in seinen Werken, die monströs großen philosophischen Fragen des Lebens, ohne deswegen auf schnelle konkrete Antworten zu hoffen. NDR-Chefdirigent Alan Gilbert eröffnet mit dieser klugen Themen-Collage das Festival.
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Wie es sich für einen Diskurs gehört, bleibt eine prominente Perspektive oft nicht einfach unwidersprochen: Der Jubel im Finale von Beethovens Neunter wird von Gilbert in einem anderen NDR-Konzert mit Schönbergs Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ gekontert. Der politisch höchst wache Dirigent Vladimir Jurowski stellt mit dem Berliner RSO Schostakowitschs Achte, ein vielschichtig zu dechiffrierendes Bekenntniswerk aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in Verbindung mit Martinus „Mahnmal für Lidice“. Hitler selbst wird dann mit einer Aufführung von Chaplins Meisterwerk „Der große Diktator“ als Horror-Clown entlarvt.
Ein Konzert im Kleinen Saal widmet sich drei großen Weltreligionen. Ein kleiner, feiner, wegen Corona jahrelang verspäteter Nebenstrang im Programm sind die Gratulationskonzerte zum 90. Geburtstag der vor den Toren Hamburgs lebenden Komponistin Sofia Gubaidulina, inzwischen 92.
Musikfest Elbphilharmonie: Oper „Saint François d’Assise“ als Spektakel
Spektakel darf und muss aber schon auch dabei sein: Dafür sorgt in diesem Musikfest insbesondere die schon seit vielen, vielen Jahren von der Staatsoper geplante Realisation der Messiaen-Oper über den Heiligen Franziskus, der sich mit seiner Friedfertigkeit passgenau ins 2024-Konzept einfügt. Eine für den Großen Saal der Elbphilharmonie maßzuschneidernde Produktion, dirigiert von Generalmusikdirektor Kent Nagano, der sich seinerzeit bei Messiaen in Paris selbst historisch über dessen Ästhetik informieren konnte. Bei Wagners „Walküre“ war das nicht möglich, doch Nagano, dem diese Einsicht seit Langem sehr am Herzen liegt, bringt eine zeitgemäß justierte Fassung mit dem Concerto Köln dann auch nach Hamburg.
Feinschmecker-Programme und Publikumslieblinge sind auch dabei
Mittendrin und fein kuratiert finden sich aber auch Gourmet-Abende wie der Marathon des Arditti Quartet mit frischester Avantgarde, Jazz mit dem Pianisten Brad Mehldau oder eine 50-Jahre-Freistil-Streichquartett-Show mit dem kalifornischen Kronos Quartet. Als konventionelle Randbebauung des Musikfest-Angebots verzieren Publikumslieblinge wie Daniil Trifonov, Lang Lang, Sir Simon Rattle oder Sir András Schiff das Angebot, mit sicher schönem, aber leitmotivfernem Standard-Repertoire von Mozart bis Rachmaninow, das passiert, weil es in reguläre Abo-Reihen gebucht wurde.
Das Musikfest beginnt ebenso demonstrativ, wie es endet: Am 16. Juni soll Teodor Currentzis das „War Requiem“ von Britten als Finale dirigieren, jenes Stück, das 1962 in der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry – 1940 durch deutsche Bomben zerstört – uraufgeführt wurde. Von jenem heftig umstrittenen Dirigenten geleitet, der seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs wegen seines Schweigens zu dieser Invasion, zu Putins Politik und seiner eigenen Rolle in Russland schweigt. „Man kann das als eine Aussage werten“, erklärte Lebitsch zu diesem Konzert mit dem SWR Symphonieorchester, um diplomatischen Tonfall bemüht, „er spricht durch seine Programmatik.“
Informationen und Karten unter www.elbphilharmonie.de und www.musikfest-hamburg.de