Hamburg. Das Ukrainian Freedom Orchestra, dirigiert von Keri-Lynn Wilson, kommt am 30.8. für ein hochpolitisches Konzert in die Elbphilharmonie.

„Slava Ukraini!“ Die letzten Worte, bevor Keri-Lynn Wilson in Warschau das Zoom-Gespräch beendet, konnten natürlich nur dieser stolze Schlachtruf sein. Sie ist Kanadierin mit ukrainischen Wurzeln, in Winnipeg aufgewachsen, in der größten ukrainischen Gemeinde Nordamerikas. Eine solide internationale Karriere als Dirigentin kann Wilson vorweisen, mit großer Regelmäßigkeit dirigierte sie auch in St. Petersburg und am Moskauer Bolschoi.

Seit Februar 2022 ist Krieg in der Ukraine und Wilson hat deswegen im vergangenen Jahr das Ukrainian Freedom Orchestra (UFO) gegründet, mit Profis aus etlichen Orchestern in etlichen Ländern. In Rekordzeit wurde Sommer 2022 nach einer kurzen Probenphase in Warschau eine erste Tournee zu feinsten europäischen Adressen organisiert, auch in die Elbphilharmonie. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine tobte währenddessen und danach weiter, Wilsons symbolischer und moralischer Kampf mit dem Taktstock geht nun in die nächste Runde.

Ukrainian Freedom Orchestra: Der Taktstock als Waffe im Krieg gegen Putin

Als die Welt noch eine andere war, habe sie für beide Länder, Ukraine und Russland, eine tiefe Liebe empfunden, erinnert sie sich, sie hat Freunde auf beiden Seiten der Grenze. „Dann brach diese Invasion los und ich wollte so sehr etwas tun. Das war so, als wären die USA in Kanada einmarschiert. Ich war so wütend, und inzwischen bin ich noch wütender. Mein Hass auf Putin ist riesig. Vor der Invasion war ich keine allzu politische Künstlerin. Aber dieses Orchester ist ein Werkzeug, ein Symbol für den Kampf an der Kulturfront. Putin kann die Stimmen und die Seele des ukrainischen Volks nicht zum Verstummen bringen.“

Kein Wunder, dass Wilson ihre Tage reflexhaft mit dem Griff zum Smartphone beginnt, um die Nachrichtenlage zu checken, auch wegen ihrer Verwandtschaft, die nicht durchgängig in der Lage ist, sich als in Sicherheit zu melden. Die wehrfähigen UFO-Mitglieder aus der Ukraine haben von ihrer Regierung die Erlaubnis erhalten, das Land für UFO-Auftritte trotzdem verlassen zu dürfen. Dass Wilson mit Peter Gelb, dem Chef der New Yorker Metropolitan Opera, verheiratet ist, war in New York für das Einfädeln diplomatischer Kontakte kein Nachteil: Der ukrainische UN-Botschafter sprach für das UFO beim Kulturministerium in Kiew vor und die redeten mit dem Militär, so kam diese Sache erstaunlich schnell voran. „Die Met ist im Krieg“, hat Gelb einmal erklärt, „und Keri-Lynn ist eine der Generalinnen, die ihn führen.“

In diesem Sommer seien die Freigaben allerdings noch schwieriger zu erhalten gewesen als im letzten, berichtet Wilson, und das, obwohl die Präsidentengattin Olena Zelenska Schirmherrin des UFO ist. Wilson und ihr Mann haben sie im vergangenen September in New York getroffen. Dort habe Zelenska signalisiert, wie sehr die Ukraine hinter diesem patriotischen Projekt steht. Ein weiteres wichtiges Zeichen, auch weil die Regierung in Kiew kürzlich verkündet habe, nun mehr Geld für militärische Zwecke auszugeben und weniger für Kultur.

Doch für egoistisches Geldverdienen war das UFO ohnehin nicht gegründet worden. Rote Zahlen habe man bei der ersten Tournee wohl so gerade eben vermeiden können, meint Wilson. Die Idee einer zweiten Tour – Start in Warschau, dann unter anderem Berlin, Luzern, Amsterdam, Hamburg, London – traf danach überall auf offene Arme. In dieser Hinsicht haben die Erfolge des letzten Jahres geholfen, finanziell und organisatorisch sei es jetzt genauso herausfordernd geblieben.

Ukrainian Freedom Orchestra: „Auf dieses Orchester bin ich so stolz!"

Ist es nicht auch tragisch, dass es ihr Orchester nach wie vor gibt? „Es hat sich etabliert, ist großartig, so schnell wird es nicht verschwinden“, entgegnet Wilson, „gegründet wurde es aus einer Tragödie heraus, als Symbol von Stärke und künstlerischer Reinheit. Auf dieses Orchester bin ich so stolz! Ich will einfach nicht, dass das endet.“

Keri-Lynn Wilson dirigiert im Theater Wielki in Warschau vor einer ukrainischen Flagge.
Keri-Lynn Wilson dirigiert im Theater Wielki in Warschau vor einer ukrainischen Flagge. © Karpati & Zarewicz | Karpati & Zarewicz

Im vergangenen November sorgte Wilson für Schlagzeilen, weil sie sich weigerte, am Teatro Colón in Buenos Aires eine „Tosca“ mit Anna Netrebko zu dirigieren. Netrebko, wegen ihrer Haltung zu Putins Politik inzwischen vielerorts eine Diva non grata, war viele Jahre lang Vorzeige-Star und Publikumsmagnet an der Met gewesen. Kürzlich erst hat Netrebko erneut eine Klage gegen das von Peter Gelb geleitete Opernhaus eingereicht, eine 360.000-Dollar-Forderung wegen entgangener Gagen. „Es ist schockierend. Künstlerinnen und Künstler, die Putin so nahe stehen, und sich nicht von ihm distanzieren. Ich finde das abscheulich. Darüber denke ich nicht nach und versuche, mich von diesen Menschen fernzuhalten.“

Das Timing des UFO-Konzerts in der Elbphilharmonie ist nicht ohne. Denn Wilson wird dort auch Beethovens „Eroica“ dirigieren, jene Symphonie, über die es diese (wahrscheinlich von einem frühen Biografen aufgehübschte Anekdote) gibt: Eigentlich hatte Beethoven das Stück Napoleon widmen wollen; doch weil der sich eigenhändig zum Kaiser krönte, hat Beethoven angeblich getobt: „Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher wie alle andern stellen, ein Tyrann werden!“ Der Fingerzeig Richtung Kreml und Gegenwart? Unübersehbar. Und genau einen Monat nach Wilsons Beethoven wird auf der gleichen Konzertbühne Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“, ein epochales Werk der sowjetischen Musikgeschichte, von Teodor Currentzis und dem SWR-Orchester aufgeführt, dessen Chefdirigent er ist.

Ukrainian Freedom Orchestra: „Die ,Eroica’ feiert unsere Helden“

Ein weiteres, sehr aktuelles Politikum: Currentzis, mit seinen eigenen Ensembles in Russland verankert und auch staatlich finanziert, steht seit Monaten wegen seines Schweigens zu Putins Angriffskrieg in der Kritik. In Schostakowitschs „Babi Jar“ wird an ein Massaker in der Nähe von Kiew erinnert, bei dem SS und Wehrmacht im September 1941 mehr als 33.000 jüdische Menschen ermordeten. Wie passt das für Wilson zusammen?

„Ich kenne Currentzis nicht persönlich. Und ich weiß, wofür Schostakowitsch sein Leben lang stand und wofür er kämpfte. ,Babi Jar‘ ist ein unglaublich kraftvolles Stück, das sich gegen Unterdrückung ausspricht. Schostakowitsch ist einer meiner Lieblingskomponisten und ich kann es kaum erwarten, mit dem UFO seine Musik zu spielen. Aber momentan ist die Zeit dafür zu heikel. Die ,Eroica‘ habe ich wegen des Offensichtlichen ausgewählt: Sie feiert unsere Helden, die Menschen, die für die Ukraine kämpfen und auch sterben. Aber auch die Menschen im Orchester.“

Den Krieg gegen Russland womöglich gewinnen, ist das eine. Dem Gegner danach vergeben können, wäre etwas ganz anderes. Nie wieder würde sie dort ein Konzert dirigieren, unter gar keinen Umständen? „Oh nein“, widerspricht Wilson sehr energisch, „ich träume davon, mit dem UFO im Kreml aufzutreten – wenn der Kreml sauber ist. Von diesem brutalen Regime befreit. Gereinigt.“

Konzert: 30.8., 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal, Werke von Verdi, Stankovych und Beethoven, evtl. Restkarten