Hamburg. Der Theatermacher starb überraschend mit nur 61 Jahren. Die Theaterwelt, insbesondere auch in Hamburg, ist traurig und erschüttert.
„Ja nichts ist ok“: Ausgerechnet mit diesem Titel ist ein Theaterabend überschrieben, der erst vor zwei Wochen Premiere an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz feierte. Und von dem man nun weiß, dass es René Polleschs letzter sein wird. Am Montagmorgen ist der Intendant, Autor und Dramatiker im Alter von 61 Jahren „plötzlich und unerwartet“ gestorben, wie das Theater mitteilte. Der Schock sitzt tief, auch in der Hamburger Theaterwelt.
Erinnerungen werden lebendig an die Anfänge der 2000er-Jahre. Pollesch war Hausautor am Deutschen Schauspielhaus, wo er unter anderem mit Catrin Striebeck und Caroline Peters die Anti-Seifenoper „world wide web-slums“ herausbrachte. Das war neu. Das war unerhört.
René Pollesch ist tot: „Uns fehlen die Worte. Seine Worte“ – ein Nachruf
Auf der Bühne sah man Schauspielerinnen und Schauspieler, die keine Rollen verkörperten, sondern die komplexe soziologische Theorien diskutierten – oder eher brüllten – und das mit einer so befreienden Energie, dass es für ein jüngeres Publikum die reinste Freude war.
Kommunikation war ein großes Thema für ihn. „Wir üben uns in Versuchen, miteinander zu sprechen, und freuen uns, wenn das gelingt“, sagte er einmal. Wenn man ihn zum Gespräch traf – meist rauchte er dann einige Zigaretten, um seine Gedankenmaschine anzukurbeln –, saß man keinem Kunst-Egomanen gegenüber, sondern einem warmherzigen, sanften, zugewandten Theatermacher, der wissen wollte, was sein Gegenüber dachte.
Pollesch: Wussten die Schauspieler nicht weiter, brüllten sie beherzt: „Scheiße!“
„Die Theorien werden bei uns ja nicht dramatisiert. Wir versuchen eher, diese Theorien zu verstehen und auf uns anzuwenden. Das macht es sehr persönlich. Auch sehr speziell“, erklärte René Pollesch seine Arbeitsweise vor drei Jahren. „Aber bei uns ist es nicht so, dass ein Regisseur die eigene Liebesgeschichte anhand einer ‚Kirschgarten‘-Szene bewältigt.“ Die klassische Tragödie war für ihn tot, die Gegenwart zählte, das Politische. Und die Spielenden stürzten sich da fröhlich mit ihm hinein, drechselten Gedanken aus der sperrigen Sachliteratur, bogen und dehnten die Bedeutungen, hechteten im Kreis, und wenn sie nicht mehr weiterwussten, brüllten sie auch mal beherzt: „Scheiße!“
Nicht immer hat man alles verstanden, manches ist auch misslungen, manchmal ergaben nur Teile einen Sinn, aber allein dieses herausfordernde und zugleich unterhaltsame Spiel mit Formen, Sätzen, Bedeutungen – das beherrschte keiner so wie Pollesch. Dabei war ihm wichtig, keine Literatur im eigentlichen Sinne zu produzieren. Das habe etwas Autoritäres, fand er. Vielmehr stellte er seine Texte zur Disposition. Klar war, Pollesch wollte viel. Auch im Provisorischen, Halbfertigen blitzte bei ihm meist noch das Geistreiche auf.
René Pollesch: Jeder wollte mit ihm arbeiten und viele taten es wiederholt
Unter Intendantin Karin Beier kehrte er ans Schauspielhaus in Hamburg zurück, brachte die gefeierten Abende „Rocco Darsow“, „Ich kann nicht mehr“, „Probleme Probleme Probleme“ und „J’accuse!“ zur Uraufführung. Karin Beier zeigte sich am Dienstag „zutiefst erschüttert und schockiert“ über die Nachricht seines plötzlichen Todes. „René war so viele Jahre einer unserer wichtigsten künstlerischen Partner und hat unseren Spielplan ganz maßgeblich mitgeprägt“, sagte die Intendantin dem Abendblatt. „Ich war sehr glücklich, als er mit ,Rocco Darsow‘ zu uns ans Schauspielhaus zurückgekehrt ist und uns weitere großartige Arbeiten geschenkt hat. Uns fehlen die Worte. Seine Worte.“ Die Schauspielerinnen und Schauspieler liebten ihn. Jede und jeder wollte mit ihm arbeiten, und viele taten es wiederholt: Catrin Striebeck, Bettina Stucky, Sophie Rois, Martin Wuttke und Fabian Hinrichs. Sie waren keine Dienstleister, sondern immer Co-Autoren, denn der Text entstand erst während der Proben.
Seine Ausnahmeposition als kompromisslosester Autor und Regisseur der Postdramatik hat sich René Pollesch hart erarbeiten müssen. Aufgewachsen als Sohn eines Maschinenschlossers und Hausmeisters und einer Hausfrau in Friedberg (Hessen), bekam er eines Tages eine Schreibmaschine geschenkt und begann zu schreiben. Als einen der Ersten zog es ihn an das damals neu gegründete Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen.
René Pollesch: Nach seinem Abschluss war er fünf Jahre mehr oder weniger arbeitslos
Nach dem Abschluss war er erst einmal fünf Jahre mehr oder weniger arbeitslos. Das verschaffte ihm die Zeit, um die „Heidi-Hoh-Trilogie“ zu schreiben, die 1999 sein Durchbruch wurde. Eine gnadenlose Abrechnung mit der Ausbeutung im Kapitalismus. Später schlug er sich auch in Texten wie „Tod des Praktikanten“ oder „Liebe ist kälter als das Kapital“ auf die Seite der gesellschaftlich Schwachen (auch wenn er selbst seine Praktikanten nicht immer bezahlte, wie er im Abendblatt-Gespräch einst einräumte).
Pollesch gelang in seinen Theaterarbeiten etwas sehr Rares, die grandiose Verschmelzung von philosophisch unterfütterter Gegenwartsanalyse, Popkultur und Boulevardkomödie. Auch wenn die Drähte des Gehirns glühten, hielt er sein Publikum stets bei bester Laune. Bald wurde Pollesch, der George Tabori und Heiner Müller zu seinen Einflüssen zählte und sich philosophisch häufig auf Donna Haraway und Jean-Luc Nancy bezog, künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne. Rastlos schrieb er über 200 Stücke, die selten länger als 90 Minuten dauerten, und inszenierte sie stets selbst vom Burgtheater Wien über das Deutsche Theater Berlin bis zum Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Mehrfach wurde er mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis und Einladungen zum Berliner Theatertreffen geehrt.
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2021 übernahm er als Teil eines Teams die Intendanz der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Hierarchien lagen ihm nicht. Das Führen eines so großen Tankers wohl auch weniger. Seine bisherige Bilanz dort fiel durchwachsen aus. Er war eben in erster Linie Textarbeiter, Autor und Regisseur. Aber jetzt ist ohnehin nichts mehr ok, denn, wie der französische Regisseur Philippe Quesne in den sozialen Medien zu einem Szenenfoto mit einer Nebelwolke schrieb, „René Pollesch ist weggeflogen“. Dabei hätte man seinen diagnostischen Blick, seine menschliche Wärme und seinen klugen Humor hier unten gerade jetzt unbedingt weiter gebraucht. Er wird schmerzlich fehlen.